Ist die Unterzeichnung des Vertrags von Maastricht vor einem Vierteljahrhundert Anlass für ein Jubiläum? Ich habe Zweifel. Ein Rückblick in der FAZ auf die Warnungen der frühen Euro-Kritiker hier.
Author Archives: Philip Plickert
Das Inflationsgespenst erwacht
Die EZB flutet die Finanzmärkte mit mehreren Billionen Euro und hat Europa vom Billiggeld abhängig gemacht. Die Entzugskur wird schmerzhaft – und wird wohl immer weiter verschoben. Derzeit leiden vor allem die Sparer, der Unmut könnte aber auch noch die Bundesregierung treffen – im Wahljahr ist der Inflationsanstieg auch ein politisch heißes Eisen.
Mein Leitartikel in der FAZ.
Buchankündigung
Die VWL auf Sinnsuche
Ein Buch für zweifelnde Studenten und kritische Professoren
Von Philip Plickert
(Veröffentlichungsdatum: September 2016
Verlag: Frankfurter Allgemeine Buch, ca. 250 Seiten)
Buchbeschreibung
Kaum eine Wissenschaft hat so viel Einfluss auf unser Leben wie die Wirtschaftswissenschaft. Aber mit der Finanzkrise ist sie in eine Vertrauenskrise geraten. Es gibt vielfältige Kritik: Realitätsferne Modelle konnten die Krise nicht vorhersagen. Die mathematischen Gleichgewichtsmodelle orientierten sich zu sehr an der Physik, das Menschenbild der Ökonomen sei eindimensional. Viele Mainstream-Ökonomen blenden institutionelle, politische, historische und andere sozialwissenschaftliche Fragen aus. Studierende kritisieren zu viel Formelpaukerei, zu wenig kritisches Nachdenken.
Manche Beschwerden sind tatsächlich berechtigt, aber die Wirtschaftswissenschaft ist im Wandel. Der Autor geht in Form von Essays den Vorwürfen nach, warum die Lehre sich ändern muss. Mit einem besonderen Blick auf die Wirtschaftsgeschichte stellt er neue Entwicklungen dar: unter anderem die Verhaltensökonomie,
die experimentelle Ökonomie und die Wiederentdeckung der Institutionenökonomie. Konkret präsentiert er eine Vielzahl spannender und faszinierender Ergebnisse aus der Welt der Wirtschaftswissenschaft zu aktuellen Themen, wie etwa die zukünftige Rolle von Robotern in der Arbeitswelt.
Ein Buch für zweifelnde Studenten, kritikbereite Professoren sowie eine neugierige Öffentlichkeit, die wissen will, wohin die Volkswirtschaftslehre steuert.
- Was läuft schief, was läuft richtig in der VWL?
- Aus der Wirtschaftsgeschichte lernen
Asylkrise: Merkel in der Sackgasse
Am 4. September 2015 hat Angela Merkel beschlossen, die Grenzen Deutschlands für die in Ungarn festsitzenden Flüchtlinge zu öffnen. Sehr wahrscheinlich hat sie – das kann man in der Rückschau sagen – an diesem Tag ihre Kanzlerschaft aufs Spiel gesetzt. Es ging zunächst um einige zehntausend Asylbewerber. Doch die Entscheidung hat eine ungeahnte Dynamik ausgelöst, so dass der Ansturm nach Deutschland exponentiell anstieg. Bis Ende 2015 sind schon rund 1,1 Millionen Asylbewerber angekommen – mehr als zwei Drittel aller in der EU registrierten Asyl-Migranten.
Trotz des Winters ist der Zuzug nach Deutschland weiterhin stark – im Januar waren es durchschnittlich 3000 am Tag. Die Stimmung in der Bevölkerung hat sich drastisch abgekühlt. Spätestens nach den Gewaltexzessen der Silvesternacht in Köln, wo auch zahlreiche nordafrikanische und arabische Asylbewerber mehrere hundert Frauen attackierten und sexuell missbrauchten oder bestahlen, ist die Stimmung gekippt.
Laut ARD-Deutschlandtrend sagen 81 Prozent der Deutschen, dass die Regierung die Flüchtlingskrise nicht im Griff habe. Eine große Mehrheit der Bevölkerung findet, dass zu viele Flüchtlinge ins Land kommen. Und auch das europäische Ausland ist irritiert über Deutschland, das sich im Willkommensrausch wie ein „gefühlsgeleiteter Hippie-Staat“ (Anthony Glees) aufführe: „No Borders, no Nations“, so lautet ein linksradikaler Schlachtruf. Die meisten anderen Europäer sind hingegen der Ansicht, dass Grenzen nicht irrelevant geworden sind. Sie machen aus ihrem Unverständnis des deutschen Kurses keinen Hehl – die Bundeskanzlerin ist somit weitgehend isoliert.
Hat Merkel wirklich ihre Flüchtlingspolitik „vom Ende her bedacht“? In ihrer Partei brodelt es. Die Nervosität steigt, seit die Umfragewerte der CDU deutlich sinken und gleichzeitig die AfD einen Höhenflug erlebt. Immer feindseliger agiert die CSU. Seehofer stellt Merkels Autorität unverhohlen in Frage. Auch in der CDU schwindet der Rückhalt. Nur mit Druck und Drohungen konnte die Fraktionsführung einen offenen Aufruhr ersticken. Bundestagsabgeordnete berichten, dass mittlerweile eine Mehrheit der Unionsfraktion den Merkelschen Kurs ablehnen. Selbst treueste Anhänger beginnen zu zweifeln, ob die Kanzlerin wirklich einen überzeugenden Plan hat.
Bislang hofft Merkel auf eine „europäische Lösung“. Das klingt theoretisch sehr vernünftig. Aber die anderen EU-Staaten ziehen nicht wirklich mit. Da Merkel den größten Teil des Flüchtlingsstroms nach Deutschland gelenkt hat, erscheint die Asylkrise den anderen Regierungen mittlerweile als primär deutsches Problem. Merkels Plan, zunächst 160.000 Asylanten „gerecht zu verteilen“, ist krachend gescheitert, nur wenige hundert wurden bislang tatsächlich umverteilt. Die Osteuropäer lehnen die Aufnahme strikt ab. Sie sagen offen, dass sie nicht Zigtausende Muslime in ihren Ländern haben möchten. Selbst die Skandinavier sind auf Abwehrpolitik umgeschwenkt. Schweden und Dänemark haben ihre Grenzen geschlossen, Schweden will 80.000 abgelehnte Asylbewerber abschieben. Und Österreich hat im Januar einseitig eine Obergrenze ausgerufen.
Drei Punkte umfasst Merkels Plan: die europaweite Umverteilung der ankommenden Asylbewerber, eine bessere Sicherung der EU-Außengrenzen und die Bekämpfung der Fluchtursachen. Alle drei Ansätze stecken fest. Zur Sicherung der EU-Außengrenze wird die Türkei umworben. Erdogan soll die Drecksarbeit machen, dafür soll er mit 3 Milliarden Euro, Visa-Freiheit sowie einem Neustart des EU-Beitrittsprozesses belohnt werden. Europa macht sich von der Türkei erpressbar. Doch die Boote starten weiterhin ungehindert von den türkischen Küstenorten in Richtung der griechischen Inseln. Und der letzte Punkt, der an sich lobenswerte Ansatz, die Fluchtursachen zu bekämpfen? Das ist keine kurzfristige Lösung, sondern wird sich über Jahre und Jahrzehnte hinziehen – mit ungewissem Erfolg.
Die Uhr für Merkel tickt. Wenn es so weitergeht, wird 2016 eine weitere Million Asylbewerber nach Deutschland streben. Laut Angaben des EU-Vizekommissionschefs Frans Timmermans haben etwa 60 Prozent der ankommenden „Flüchtlinge“ kein Asylrecht in der EU, weil sie aus Ländern kommen, in denen weder politische Verfolgung noch akute Bedrohung durch (Bürger-)Krieg gibt. Das ergaben Analysen der Situation von Frontex im Dezember.
Zwar setzt Merkel mittlerweile verstärkt neben dem „freundlichen Gesicht“ der Aufnahmebereitschaft auch auf restriktive Maßnahmen durch partielle Verschärfungen des Asylrechts. Das hat bislang ihren in ganz Arabien und Nordafrika bestehenden Ruf der freundlichen „Mama Merkel“ nicht angekratzt; die Macht der Selfie-Bilder mit Asylbewerbern hat sie unterschätzt. Der einmal in Bewegung gesetzte Strom nach Deutschland ließe sich nur durch ein drastisches Signal stoppen. Dazu ist Merkel nicht bereit. Gerätselt wird, was ihre Motivation bei der Grenzöffnung war. Der Versuch, die Koalitionsperspektive mit den Grünen zu vertiefen? Oder tatsächlich der humanitäre Impuls, sämtliche Einlass begehrenden Asylbewerber aufnehmen zu wollen?
Längst warnen renommierte Forscher aus dem Ausland die deutsche Politik vor Blauäugigkeit. „Deutschland überfordert sich, wenn es versucht, die Welt zu retten“, sagt etwa der Migrationsforscher George Borjas von der Harvard-Universität, der selbst einst Flüchtling aus Kuba war. „Deutschland wird einen hohen Preis für die Politik der offenen Tür zahlen“, warnt Borjas. Und der Entwicklungsökonom und Afrikaforscher Paul Collier von der Universität Oxford wirft Merkel fatale Signale vor. Indem sie die Tür geöffnet hat, habe sie den Asylbewerberzustrom verstärkt „Sie hat Deutschland und Europa damit definitiv ein gewaltiges Problem aufgebürdet“, sagt Collier.
Zuvor hatten schon einige der renommiertesten deutschen Juristen die Verfassungs- und Rechtsmäßigkeit von Merkels Flüchtlingspolitik angezweifelt. Der Ex-Präsident des zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier geißelte ein „eklatantes Politikversagen“. Die Bundesregierung habe die Leitplanken des deutschen und europäischen Asylrechts „gesprengt“, bestehende Regelungen „an die Wand gefahren“. Ähnlich vernichtend äußerten sich der frühere Verfassungsrichter Udo Di Fabio, der Berliner Verfassungsrechtler Ulrich Battis („klare Verfassungsbrüche“) sowie der frühere NRW-Verfassungsgerichtspräsident Michael Bertrams („Merkels Alleingang war ein Akt der Selbstermächtigung“).
Auch die Wirtschaft ist inzwischen eher besorgt. Im Spätsommer 2015, als die Migrationswelle erst richtig losging, klangen einige Unternehmensvertreter noch hoffnungsvoll und träumten von schnell einsetzbaren (billigen) Fachkräften. Im besten Fall könnte der Flüchtlingsstrom „die Grundlage für das nächste deutsche Wirtschaftswunder werden“, mutmaßte Dieter Zetsche, der Daimler-Vorstandsvorsitzende. Der Chefvolkswirt der Deutschen Bank, David Folkerts-Landau, sagte bei einem Abendessen mit Journalisten sogar, der Flüchtlingsstrom sei „das Beste, was Deutschland seit der Wiedervereinigung passiert sei“, die massenhafte Zuwanderung könnte dem überalterten und bald schrumpfenden Land einen großen wirtschaftlichen Schub geben.
Doch damit das wirklich gelänge, müssten die Asyl-Migranten reibungslos in den Arbeitsmarkt zu integrieren sein. Das aber scheint kaum möglich. Die bislang verfügbaren Daten sind ernüchternd. Laut Bundesagentur für Arbeit (BA) haben mehr als 80 Prozent der Ankommenden „keine formale Qualifikation“, nur etwa 10 Prozent verfügen über einen Hochschulabschluss. Die meisten Unternehmen sehen die überwiegende Mehrzahl der Flüchtlinge allenfalls als Hilfsarbeiter einsetzbar – für deren Beschäftigung aber der Mindestlohn eine Barriere darstellt. Laut BA-Vorstandsmitglied Detlef Scheele wird die Arbeitsmarktintegration sehr mühsam. „Wenn es gut läuft, werden im ersten Jahr nach der Einreise vielleicht zehn Prozent eine Arbeit haben, nach fünf Jahren ist es die Hälfte, nach 15 Jahren 70 Prozent“, sagt er.
Selbst das erscheint optimistisch. Von den bisher in Deutschland lebenden Syrern haben laut einer IAB-Studie 63,8 Prozent keine Arbeit, unter den Libanesen, Irakern und Afghanen sind 49, 43 und 32 Prozent arbeitslos gemeldet – weit mehr als doppelt so viel wie beim Durchschnitt der anderen Ausländergruppen. Kein Wunder, dass Wirtschaftsforschungsinstitute wie das IW oder das IfW allein bis 2017 schon Kosten von 50 bis 55 Milliarden Euro für die Asylbewerber errechnen – zum einem für Unterbringung, Verpflegung, medizinische Versorgung und Sozialleistungen, zum anderen für Integrationsmaßnahmen. So kann es nicht weitergehen mit einer ungesteuerten und ungebremsten Zuwanderung, zu der bald noch der Familiennachzug in mehrfacher Höhe kommen könnte. Die Kosten – vor allem die politischen werden bald unerträglich hoch.
Die Kanzlerin hat sich mit ihrer Flüchtlingspolitik in eine Sackgasse manövriert. Nur eine völlige Kurswende könnte sie daraus befreien. Merkel hat bei früherer Gelegenheit – etwa bei dem radikalen Umwerfen der Energiepolitik – ihre Wendigkeit bewiesen. Niemand sollte sie unterschätzen. Wenn Merkel jedoch den deutschen Sonderweg mit unbegrenzter Asylaufnahme weitergeht, wird es eng für sie.
(Der Beitrag wurde für die Zeitschrift „Mut – Forum für Kultur, Politik und Geschichte“ geschrieben und erscheint in der März-Ausgabe.)
Gedanken zum Jahreswechsel 2015/2016
Eine traurige Bilanz für die Freiheit
Die Einschläge kommen näher. Wer für eine freiheitliche Ordnung eintritt, für den hat es im vergangenen Jahr wenig Anlass zur Freude, aber viel Anlass zur Sorge gegeben. Manchmal konnte man gar Angst bekommen.
Wir haben einige der schwersten Anschläge auf die Freiheit seit langem erlebt, beginnend mit dem Massaker an Redakteuren der Zeitschrift „Charlie Hebdo“ im Januar. Ihr Vergehen: Sie hatten Mohammed verhöhnt. Als Bürger und Journalist habe ich einen Schauder gespürt angesichts dieses abscheulichen Anschlags auf die Pressefreiheit. Am gleichen Tag wurde noch ein jüdischer Markt in Paris attackiert, insgesamt gab es gut ein Dutzend Tote. Gewalttätige Islamisten haben im November in Paris noch einmal zugeschlagen, dabei gab es sogar 130 Tote.
Die Freiheit und Sicherheit in Europa waren schon lange nicht mehr so gefährdet wie jetzt. Und wie reagieren wir darauf? In seinem Buch „Keine Toleranz den Intoleranten“ über den schizophrenen Umgang der Intellektuellen des Westens mit dem Vordringen des radikalen Islams schreibt der Kulturjournalist Alexander Kissler, dass es eine Tendenz zu einer „mentalen Islamisierung“ gebe – nämlich die Scheu, den inakzeptablen, totalitären Kern der islamischen Polit-Religion konsequent zu kritisieren. Stattdessen hören wir viel Appeasement.
„Bloß nicht provozieren“, lautete die Devise, die viele Politiker, Gutmeinende und professionelle Beschwichtiger befolgen. Ich meine, eine der größten Gefahren für die Freiheit in den kommenden Jahren wird darin bestehen, dass das – oft auch schleichende – Vordringen des radikalen Islams in Europa im Namen einer falsch verstandenen Toleranz geduldet wird und dass Kritik aus Gründen der „Political Correctness“ unterdrückt oder als „islamophob“ oder gar „fremdenfeindlich“ diffamiert wird. Die „Schere der Selbstzensur in den Köpfen“ (Kissler) schneidet scharf.
Vor siebzig Jahren, als Friedrich August von Hayek sein politisches Werk „Der Weg zur Knechtschaft“ veröffentlicht hatte, war die freie Gesellschaft vor allem durch den Megatrend zur Planwirtschaft gefährdet. Nicht nur im Osten, auch in Europa gab es viele, die sozialistische Planungstechniken in Wirtschaft und Gesellschaft dem freien Markt als überlegen ansahen. Obwohl der real existierende Sozialismus im Osten krachend gescheitert ist, bleiben unterschwellig viel Sozialismus-Sympathien und viel Ressentiments gegen den Kapitalismus bestehen.
Bis heute haben viele nicht verstanden, dass der Markt – in einer Ordnung, die den Wettbewerbs sichert – Chancen für nahezu jeden bietet und durch Wahlmöglichkeiten die Freiheit sichert. Hinzu kommt, dass die Marktwirtschaft in allen Ländern, in denen sie konsequent verwirklich wurde, zu einer erstaunlichen Zunahme des Wohlstandes geführt hat. Die Bundesrepublik hatte nach dem Zweiten Weltkrieg das Glück, dass sie einen Wirtschaftspolitiker hervorbrachte, der – inspiriert von der Freiburger Schule um Eucken und auch von Hayek – eine (soziale) Marktwirtschaft errichtete – im Unterschied zum vorherrschenden planwirtschaftlichen Zeitgeist. Ludwig Erhard war ein großes Glück für Deutschland.
Leider haben die Deutschen nach und nach das geistige Erbe Erhards vergessen. Die soziale Marktwirtschaft wird in Sonntagsreden gepriesen, doch im Alltag versündigen sich die Politiker immer wieder an den Grundprinzipien, dass der Staat zwar den Rahmen errichten soll, nicht aber in den Preismechanismus eingreifen soll.
Oder ausgedrückt in der Sprache des Fußballs: Der Staat soll die Spielregeln aufstellen und lediglich Schiedsrichter sein, aber er ist immer öfter Mitspieler, weil den Politikern die Rolle des Unparteiischen nicht reicht. Sie wollen das Spielergebnis bestimmen, und sorgen so für ein schlechtes Spiel.
Im vergangenen Jahr haben sich die Politiker in Deutschland weitere Eingriffe in den Markt erlaubt oder diese fortgeführt. Das wird sich rächen, es kostet Wohlstand und Freiheit. Die planwirtschaftliche Energiewende, die auf einer absurden „Anmaßung von Wissen“ der Politik über die richtige Stromerzeugungstechnik beruht, wird fortgeführt. Vorwärts, mit dem Kopf gegen die Wand. Die Kosten für die gesamte absurde Energieplanwirtschaft wachsen in dreistellige Milliardenhöhe. Jährlich werden allein über 20 Milliarden Euro zwangsweise von den Stromkunden zu privilegierten „grünen“ Stromproduzenten umverteilt.
Beim Versuch, das Weltklima zu retten, setzt die Politik weiterhin auf zahlreiche EU-weite und nationale Einzelregulierungen, aber nicht auf das naheliegende marktwirtschaftliche Instrument eines globalen Emissionszertifikate-Handelssystem, das die angestrebte Minderung zu den günstigsten Grenz- und Gesamtkosten erreichen würde. Der gegenwärtige Weg, den vor allem die deutschen Grünmenschen und Ökoplanwirtschaftler fast aller Parteien mit sturer Beharrlichkeit gehen, ist extrem teuer und ineffizient.
Erstmals seit 1949 gilt in der Bundesrepublik seit Anfang vergangenen Jahres ein staatlich gesetzter Mindestlohn. Zuvor galt die Tarifautonomie als zentrale Säule der sozialen Marktwirtschaft, sie ist eng mit der Vertragsfreiheit verbunden. Doch die Vertragsfreiheit wird immer mehr ausgehöhlt und beschädigt (auch durch die Antidiskriminierungsgesetze). Zwar kam es durch den Mindestlohn-Eingriff nicht direkt zu Verwerfungen am Arbeitsmarkt, doch stellt der Mindestlohn künftig eine Hürde für Geringqualifizierte dar, so dass diese einen erschwerten Zugang zum Arbeitsmarkt haben. Gleiches gilt für die im vergangenen Jahr eingewanderten rund eine Million Asylbewerber.
Die Regulierung des Arbeitsmarktes in Deutschland gilt im internationalen Vergleich als hoch. Zum Jahreswechsel tritt die gesetzliche Frauenquote in Aufsichtsräten für mehrere Tausend Unternehmen in Kraft. Zur Krönung der Überregulierung betreibt das SPD-geführte Bundesfamilienministerium für 2016 weiter die Einführung eines „Entgeltgleichheitsgesetzes“ voran. Es soll sicherstellen, dass Frauen und Männer für „gleiche Tätigkeiten“ gleichen Lohn erhalten, doch wie will der Staat feststellen und überprüfen, was gleiche Tätigkeiten und gleiche Karrierewege sind. Hier droht das nächste Bürokratiemonster, wenn Arbeitgeber die entsprechenden Nachweispflichten erbringen müssten. Außerdem wäre ein solches Gesetz ein weiterer Nagel am Sarg der Vertragsfreiheit und Tarifautonomie in Deutschland.
Die Flüchtlingskrise ist seit vergangenem Sommer das beherrschende Thema und wird wohl auch 2016 die politischen Diskussionen dominierten. Auch freiheitlich gesinnte Menschen sind besorgt, wie tiefgreifend der Strom der Asylsuchenden überwiegend aus islamischen Regionen, in denen Religionsfreiheit, politische Freiheit und Gleichberechtigung von Männern und Frauen verwehrt werden, dieses Land verändern wird. Zugleich hat sich Deutschland durch seinen Sonderweg in der Asylpolitik, beginnend mit dem Alleingang der Bundeskanzlerin zur Öffnung der Grenzen, in der EU isoliert. Die Spannungen in Europa angesichts der Flüchtlingskrise werden wohl noch diejenigen während der Euro-Krise übertreffen.
Die Euro-Krise ist zwar bei weitem nicht ausgestanden, doch wird sie durch das starke Breitband-Antibiotikum der Europäischen Zentralbank (EZB) überdeckt. Durch das billige Geld wird in Teilen des Kontinents eine Art Konkursverschleppung betrieben, bankrotte Banken und Staaten wurden durch das Billiggeld gerettet und die notwendigen Reformen und die Haushaltskonsolidierung eher auf die lange Bank geschoben. Die EZB hat angekündigt, 1,5 Billionen Euro Anleihen, überwiegend Staatsanleihen zu kaufen. Der Ausgang dieses geldpolitischen Experiments ist völlig offen. Wenn es schlecht läuft, verliert die EZB ihre Unabhängigkeit und wird zum Staatsfinanzierer, der sich auf Gedeih und Verderben mit hochverschuldeten Regierungen verbunden hat.
Mit dem dritten sogenannten Hilfspaket ist das Trauerspiel der „Griechenland-Rettung“ einen Akt weitergekommen. Am Ende dieser Tragödie wird die Erkenntnis stehen, dass große Teile der Hilfskredite (von derzeit schon rund 200 Milliarden Euro) unwiederbringlich verloren sind und abgeschrieben werden müssen. Diesen Verlust für die europäischen Steuerzahler werden die verantwortlichen „Rettungspolitiker“ indes zu verschleiern versuchen, indem die ohnehin schon sehr niedrigen Zinsen weiter gesenkt werden und die Lautzeiten bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag (ad calendas graecas) verlängert werden. Es bleibt abzuwarten, ob der deutsche Steuermichel das durchschaut. Schon jetzt findet im Zuge der Euro-Rettung (via Geldpolitik) eine große Umverteilung statt: von Sparern zu Schuldnern und vom Privatsektor zum Staat.
Als Hayek 1944 seine Streitschrift „Der Weg zur Knechtschaft“ publizierte, widmete er sie den „Sozialisten in allen Parteien“. Ludwig Erhards soziale Marktwirtschaft hat den Weg in die Knechtschaft zunächst gestoppt und umgekehrt, aber seit den siebziger Jahren wurde er wieder beschritten und in vergangenen Jahr ist er dem Ziel ein gehöriges Stück nähergekommen. „Mit dem Rückgang der freien Marktwirtschaft ging auch die Erkenntnis dessen, was von ihrer Existenz abhing, verloren“, schrieb Hayek.
Der Markt ist die wirtschaftliche Manifestation der Freiheit. Gleichzeitig ist aber die Marktwirtschaft auch die Bedingung der Freiheit, denn mit der wirtschaftlichen Entmündigung geht auch die persönliche Freiheit verloren. Der Wert der Ersparnisse der Bürger wird durch die EZB-Geldschwemme und die Null-Zinsen gefährdet, wenn es wie in der Vergangenheit zu Inflation kommt. So oder so belasten die hohe Staatsverschuldung und die Billionen-Haftung kommende Generationen. Die anhaltende Massenarbeitslosigkeit in Teilen Südeuropas destabilisiert die EU politisch, indem Bewegungen wie Syriza, Podemos, aber auch der Front National Auftrieb erhalten oder gar an die Macht kommen.
Nicht der totalitäre Sozialismus des 20. Jahrhunderts ist die heutige ökonomisch-politische Hauptgefahr, sondern der „schleichende Sozialismus“, der sich in den Reglementierungen und Markteingriffen durch Mindestlohn, Quoten, Regulierungen, die hohe Steuer- und Abgabenlast und die umfassende Bürokratie zeigt. Einer der größten Kostentreiber bleibt die Energiewende. Unerfreuliche „Fortschritte“ haben auch die sich herausbildenden europäischen Transferunion und der EU-Zentralismus im vergangen Jahr gemacht. Hinzu kommen Erosionstendenzen des Bildungswesens. Zu schlechter Letzt muss man das Gender Mainstreaming als freiheitsfeindliche neue Umerziehungsideologie erwähnen, die sich immer weiter ausbreitet – in der Alltagssprache wie auch in Gesetzen und Verordnungen.
Hayek war einer der Warner vor dem Verlust bürgerlicher Freiheit. Im totalitären Sozialismus war es die Stasi, die den „Primat der Politik“ absicherte. Heute ist es die politische Korrektheit, die nicht Telefone abhört, dafür aber die Zensurschere schon im Kopf ansetzt. „Der Wandel läuft auf eine völlige Umkehrung…hinaus, auf eine völlige Aufgabe der individualistischen Tradition, der wir die abendländische Kultur verdanken“, schrieb Hayek.
Das Wort von der „Alternativlosigkeit“ sollte zum Unwort nicht des Jahres, sondern des Jahrzehnts ernannt werden. Es beschreibt den beklagenswerten Zustand unserer „politischen Kultur“. Demokratie hat Hayek als „Regierung durch Diskussion“ bezeichnet (Verfassung der Freiheit, S. 142). Mehrheiten beschreiben nur den Willen, garantieren aber nicht die Richtigkeit einer Entscheidung. Daher setzt Demokratie voraus, „dass eine Minderheitsansicht die Ansicht einer Mehrheit werden kann“ (S. 140).
Die Merkel-Politik lebt nicht von demokratischen gesellschaftlichen Diskussionen, Argumenten und Wahlmöglichkeiten, sondern von „Alternativlosigkeit“. Sie bricht sogar sehenden Auges Verträge. Zunächst den von Maastricht (mit der No-Bailout-Klausel), im vergangenen Jahr dann wurde in Europa die Verletzung der Regeln von Dublin III und Schengen in der Asylkrise endemisch. Nach der Euro-Rettung und der Energiewende ist nun auch die „Politik der offenen Grenze“ alternativlos.
Demokratie lebt von einer starken Opposition. In der Merkel-Republik werden „Dissidenten“ in ihrer Partei ausgegrenzt, Kritiker als „Europafeinde“ oder „Asylfeinde“ stigmatisiert. Das spaltet die Gesellschaft und macht eine lebendige Diskussion unmöglich. Wie nennt man eine Demokratie ohne Opposition?
Zunehmend wird Krisenpolitik unter Umgehung oder Übergehung des Parlaments gemacht. Die Entscheidungsvorbereitung und Entscheidungen sind extrem stark exekutiv vorgeprägt, die Abgeordneten als „Vertreter des ganzen Volkes“ wurden entweder nicht gefragt oder ihre Zustimmung unter (Zeit-)Druck quasi erpresst. Bei den Euro-Hilfspaketen hatte der Bundestag keine wirkliche Wahl (die Unterlagen für Abstimmung über das dritte Griechenpaket gab es beispielsweise erst am Morgen der Abstimmung), bei der Entscheidung über die „Aussetzung“ der Dublin-Regeln wurde es noch nicht einmal gefragt.
Wir erleben damit die schleichende Veränderung der staatlichen Ordnung von der parlamentarischen hin zu einer exekutiven Demokratie – kurz und bewusst überspitzend kann man es auch „Post-Demokratie“ nennen. So gesehen war das Jahr 2015 kein gutes für die Freiheit. Die Demokratie und der Wettbewerb der Ideen dürfen nicht völlig erstickt werden unter der Grabplatte der „Alternativlosigkeit“, sondern müssen wieder aufleben.
Philip Plickert, 1. Januar 2015
Ich danke einigen Vorstandskollegen des Frankfurter Hayek-Clubs, namentlich Harald Oestreich, Thorsten Lieb, Gerd Robanus und Ramin Peymani, für sehr hilfreiche Anregungen und teils größere Textzulieferungen. Die Aussagen des Gesamttextes bleiben selbstverständlich nur mir zuzuordnen.
Neuanfang der Hayek-Gesellschaft mit Prof. Wolf Schäfer
Nach den Turbulenzen ist ein guter neuer Vorsitzender gefunden worden.
Um ein Haar wäre die Hayek-Gesellschaft vor ein paar Wochen zerbrochen. Die damalige Vorsitzende ist medienwirksam mit einigen anderen Mitgliedern ausgetreten und hat seitdem kräftig medienwirksam nachgetreten. Es ging gegen „Reaktionäre“, die sich in der Hayek-Gesellschaft angeblich breitgemacht hätten. Der Verein, dem zuvor 350 Wissenschaftler, Unternehmer, Publizisten, Studenten und einfach engagierte liberale Bürger angehörten (darunter auch der Autor dieser Zeilen), verlor rund 60 Mitglieder, darunter viele gute Leute. Das war ein wirklich schmerzhafter Verlust – und es war unverständlich und unnötig, denn der Streit war an den Haaren herbeigezogen.
Viele der Ausgetretenen haben den Konflikt zwischen der Vorsitzenden und dem Sekretär der Gesellschaft (darum ging es im Kern), der sich vor und während der Leipziger Mitgliederversammlung am 25./26. Juni zuspitzte, nur vom Hörensagen gekannt und sich dann von der ausgetretenen Vorsitzenden einseitig beeinflussen lassen. Beispielsweise wusste FDP-Chef Lindner überhaupt nichts von den internen Vorgängen und hat die Mitgliederversammlung in Leipzig, auf der durchaus lebhaft und zum Teil auch ruppig debattiert wurde, nicht besucht. Und trotzdem ist er ausgetreten und hat mit seinem Austritt das Signal gegeben, dass die Hayek-Gesellschaft jetzt irgendwie „bäh“ sei.
Das fanden viele übel. Das Verhalten der ausgetretenen Vorsitzenden Karen Horn kann man mit rationalen Kategorien kaum noch begreifen. Sie hat sich mit immer schrilleren Anklagen in etwas hineingesteigert, was tatsächlich eine „Phantomdebatte“ war, und verlangte, dass alles, was nicht anschlussfähig ist an einen weichgespülten Linksliberalismus-Mainstream, verbannt werden müsse. Gott sei Dank hat sich die große Mehrheit der Mitglieder von den Turbulenzen nicht abschrecken lassen. Beispielsweise hat Gerhard Papke, lange Jahre der FDP-Fraktionsvorsitzende im NRW-Landtag, die Hayek-Gesellschaft dezidiert in Schutz genommen, auch als sein Parteivorsitzender den Verein im Regen stehen ließ.
Nun wurde ein neuer Vorsitzender gewählt: Der Ökonom Wolf Schäfer, emeritierter Professor von der Helmut-Schmidt-Universität, der vor allem über Währungsfragen sowie über „politische Ökonomie“ geforscht hat. Hayek hat Schäfer mehrfach getroffen, einmal bei einem Vortrag am Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW), bei dem der Keynesianer Erich Schneider, dessen Assistent Schäfer damals war, auf Hayeks Vortrag über den „Wettbewerb als Entdeckungsverfahren“ äußerst griesgrämig reagierte und Hayek aufforderte, seine Theorie doch jetzt einmal mit einem Koordinatensystem und einer Kurvendiskussion darzustellen. Auf der Mitgliederversammlung in Fulda an diesem Samstag (5. September) haben etwa 90 anwesende Vereinsmitglieder Prof. Schäfer fast einstimmig (bei wenigen Enthaltungen, u.a. von mir) an die Spitze des Gesellschaft gewählt. Zum stellvertretenden Vorsitzenden wurde der Düsseldorfer Rechtsanwalt Carlos Gebauer bestimmt.
Schäfer ist ein sehr bedächtiger Hanseat mit einem ausgleichenden Temperament, der aber einen Standpunkt auch mit Nachdruck verteidigen kann.
Er hat den Mitgliedern als Botschaft mitgegeben: Man muss jetzt nach vorne schauen und die Querelen und die Schlammschlacht der Vergangenheit hinter sich lassen. Ein Aufbruchsignal war auch, dass rund 30 neue Mitglieder eingetreten sind und aufgenommen wurden, lauter respektable Leute (besonders interessant die schon 93-jährige einstige Pressereferentin von Ludwig Erhard, die Journalistin Gräfin von Schlippenbach). In der Aussprache wurde deutlich, dass bei einigen der Verdruss über die mediale Diffamierung durch die ausgetretene ehemalige Vorsitzende tief sitzt. Aber man hat sie dann doch (sehr knapp) als Vorstand entlastet, auch alle anderen früheren und aktuellen Vorstandsmitglieder wurden vereinsrechtlich entlastet. Der Streit der Vergangenheit soll jetzt wirklich ruhen.
Schäfer hat er versprochen, sich um zwei Zielgruppen mehr zu bemühen: Unternehmer und junge Leute. Die Politik, sagte Schäfer, versündige sich an der jüngeren Generation und kommenden Generationen, indem sie zu viele Ressourcen zugunsten der alternden Gesellschaft und der Rentner umverteile und zu wenig an die Zukunft denke. Polit-ökonomisch ist das verständlich, weil Kinder und Ungeborene keine Stimme bei den Wahlen haben, stattdessen das Gewicht der mehr als 20 Millionen Rentner bei Wahlen immer mehr wächst. Ein Vorschlag in Fulda war auch, sich wieder mit Ansätzen für eine Demokratiereform zu befassen. Hayek hatte dazu einige Ideen mit einem Zwei-Kammern-System. Aber man könnte auch über ein Familienwahlrecht sprechen, finde ich.
Als zweiten inhaltlichen Schwerpunkt nannte Schäfer die zunehmende Tendenz zur Zentralisierung in Europa. Das im EU-Vertrag festgeschriebene Prinzip der Subsidiarität werde überhaupt nicht ernst genommen. Dabei ist das Subsidiaritätsprinzip (das ursprünglich aus der katholischen Soziallehre stammt) ein unverzichtbarer Grundsatz, um Entscheidungen nicht nur bürgernah, sondern kompetent zu fällen. Schäfer formulierte es ökonomisch-theoretisch so: Wo liegen die komparativen Vorteile bei der Entscheidungsfindung? Da das meiste Wissen dezentral verstreut ist (eine Kerneinsicht Hayeks), wäre es richtig, die Entscheidungen über Problemlösungen dezentral, also auf der untersten möglichen Ebene zu fällen – dort, wo die Probleme auftauchen.
Nicht alle Fragen und Probleme, die in Europa auftreten, müssen „europäisch“ (als durch die Brüsseler Kommission oder durch den Ministerrat) gelöst werden. Die Vielfalt Europas kann und muss sich auch in vielfältig unterschiedlichen Wegen – jeweils den vorherrschenden regionalen oder nationalen Präferenzen entsprechen – ausdrücken können. Nur bei Problemen mit wirklich grenzüberschreitenden externen Effekten muss eine supranationale Lösung gefunden werden.
Statt der „immer engeren Union“ (Vertrag von Lissabon), was in Wahrheit eine immer zentralistischere Union meint, muss man anfangen, über die Rückverlagerung von Kompetenzen zu sprechen, einige an die Nationalstaaten, andere an noch kleinere Einheiten und Körperschaften wie die Bundesländer, die Kommunen etc.. Und Schäfer hat völlig recht, dass dies überhaupt nichts mit Nationalismus zu tun hat. Sondern es hat mit dem Willen zu tun, die Freiheit nicht auf dem Fetisch-Altar einer „EU“ zu opfern, die einiges Gutes, aber auch manches Zweifelhafte für die Bürger und die europäischen Völker bewirkt hat. Die hayekianische Stimme sollte in der europäischen Debatte mehr gehört werden.
Als weitere Themen hat Schäfer kurz die Migration und den Wettbewerb der Ordnungssysteme angesprochen. Angesichts der Massenmigration ist die Frage, wie Liberale sich dazu stellen, ein hochbrisantes Thema. Auf den Leipziger Hayek-Tagen gab es dazu eine spannende Diskussion. Prof. Weede warnte vor einer Einwanderung in die Sozialsysteme. Andere meinten, man könnte eine Belastung des Sozialstaats vermeiden; Migration sei eine Win-Win-Geschichte für alle Seiten. Aber das stimmt wirklich nur dann, wenn sie gewaltfrei und ohne Verzerrung durch finanzielle Anreize des Sozialstaats abläuft und wenn die Neuankömmlinge keine kulturellen Prägungen mitbringen, die die freiheitliche Ordnung des Aufnahmelandes gefährden können. Ich bin sehr skeptisch, ob es angesichts der überwiegend muslimischen Massenmigration nicht doch eines Tages so weit kommen kann.
Auch jeden Fall ist es gut, dass die Hayek-Gesellschaft nun einen Vorsitzenden hat, der offene und freie Debatten führen, keine Ausgrenzung betreiben und keine Denkverbote aufstellen will. Für eine liberale Gesellschaft sollte das ja eigentlich auch selbstverständlich sein.
P.S.:
Hier hat Wolf Schäfer vor einigen Tagen selbst über den unnötigen Streit geschrieben und die unnötige Abgrenzungsmanie von Rechtsliberalen – vor allem wenn man bedenkt, dass der Zeitgeist so überwältigend links steht… Schäfers Text ist sehr zu empfehlen!
Die alternde Republik
Herwig Birgs Abrechnung mit dem „Versagen der deutschen Politik“
Deutschland ist ein Land mit immer weniger Kindern, das in eine demografische Sackgasse steuert – aber sehr viele Menschen haben sich damit scheinbar abgefunden. Das Buch „Die alternde Republik“ von Herwig Birg ist der Aufschrei eines renommierten Wissenschaftlers, der seit Jahrzehnten die problematische demografische Entwicklung in Deutschland analysiert und prognostiziert, der aber mit seinen Warnungen und Mahnungen in der Politik auf viel Unverständnis gestoßen ist.
Birg war von 1981 bis 2004 Direktor des Instituts für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik an der Universität Bielefeld. Auch nach seiner Emeritierung hat er zahlreiche Regierungen, Parlamente, Enquete-Kommissionen und Organisationen beraten. Doch er stieß weitgehend auf taube Ohren, findet er (auch wenn der Bundesbank-Präsident ihn zuweilen zitiert und der verstorbene F.A.Z.-Herausgeber Frank Schirrmacher mit Birg und entlang Birgs Thesen große Debatten führte).
Gender statt Kinder – so könnte man Birgs Klage über die Politik der deutschen Universitäten kurz zusammenfassen. Verbittert merkt Birg an, dass sein einst unabhängiges Institut nach seiner Emeritierung degradiert wurde (Feministinnen hatten schon bei der Gründung auf einem großen Transparent in der Uni-Eingangshalle geschrieben: „Wir fordern die Abtreibung des Instituts für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik!“) und zwei weitere Lehrstühle für Bevölkerungswissenschaft (an der Uni Bamberg und der Berliner Humboldt-Uni) abgewickelt wurden – während gleichzeitig die Lehrstühle für Frauen- und Gender-Studies wie Pilze aus dem Boden schießen und es mittlerweile mehr als zweihundert Professuren für Gender-Studies gibt. Deutschlands Bildungspolitik setzt eben Prioritäten.
Seit vier Jahrzehnten liegt die Geburtenzahl je Frau in Deutschland bei etwa 1,4 – das heißt, es werden rund ein Drittel weniger Kinder geboren als für die Bestandserhaltung und Stabilisierung der Altersstruktur nötig sind. Seit Jahren ist die deutsche Bevölkerungszahl im Sinkflug und die Einwohnerzahl Deutschlands wird nur durch die recht hohe Nettozuwanderung hochgehalten. Weil die Kinderzahl aber so niedrig ist und bleibt, wird der Sinkflug in ein bis zwei Jahrzehnten zum demografischen Sturzflug, warnt Birg. Bis zum Jahr 2060 wird nach seinen Vorausberechnungen die Einwohnerzahl Deutschlands um rund 20 Millionen (fast ein Viertel) sinken und die verbleibende Bevölkerung sehr stark gealtert sein – mit allen negativen Konsequenzen für die Wirtschaft und die Finanzierbarkeit der Sozialsysteme.
Die Politik aber, kritisiert Birg, stecke den Kopf in den Sand. Er wirft sämtlichen Parteien „verantwortungslose Untätigkeit angesichts eines existentiell wichtigen Problems“ vor. Seit Jahrzehnten ignoriere die Bundesrepublik die „am genauesten prognostizierte Krise ihrer Geschichte“, schreibt Birg. Bei der „Demografiestrategie“ der Bundesregierung gehe es nicht darum, die Kinderzahl gezielt zu erhöhen, sondern hauptsächlich um Maßnahmen zur Anpassung an die Folgen der demografischen Schrumpfung.
Seit einiger Zeit stellt er zudem fast, werde das Problem des „demografischen Wandels“ in eine „Chance“ umdefiniert und beschönigt. Dazu zitiert Birg in der Tat schwer nachvollziehbare Äußerungen von Regierungsvertretern, die von „weitaus mehr Chancen als Risiken“ sprechen. Zwar gibt es einige Branchen, die von der Alterung profitieren, aber das gesamtwirtschaftliche Potential wird klar gedrückt. Und in den „Entleerungsgebieten“, wie die verödenden Landstriche vor allem im Osten und Norden Deutschlands genannt werden, führt das demografische Ausbluten zu großen Problemen.
Birg meint, dass die Bevölkerung zum Teil bewusst in die Irre geführt werde. Aus seiner Sicht haben viele das demografische Grundproblem nicht verstanden: Die Alterung der Gesellschaft rührt nicht – wie auch Schirrmacher im „Methusalem-Komplex“ suggerierte – hauptsächlich von der steigenden Lebenserwartung (die durchaus individuell ein Gewinn ist), sondern vom eklatanten Kindermangel. Und dieser wird auf die Dauer zu einer drastischen Schwächung der Wirtschaft und der Sozialsysteme führen. Dagegen kann auf Dauer auch ein stetig angehobenes Renteneintrittsalter nichts helfen.
Die (Gesundheits- und Renten-)Kosten für eine so stark alternde Gesellschaft werden stetig steigen und zu einer großen Last für die schrumpfenden nachwachsenden Generationen, schreibt Birg, der nicht nur Demograf, sondern auch habilitierter Ökonom ist. Einzelne Unternehmen können durch engagierte Personalpolitik versuchen, ihren Fachkräften trotz der Alterung zu sichern, aber dem Land insgesamt werden die arbeitsfähigen Köpfe knapp. Für Birg ist es ausgemacht, dass das Wachstumspotential Deutschlands wegen der demografischen Schrumpfung langfristig unter ein Prozent sinkt.
Das Buch enthält in mehreren Kapitel eine sachliche Darlegung des kleinen Einmaleins der Bevölkerungswissenschaft: Birg erklärt die Determinanten der Demografie (Geburtenrate/Fertilität, Sterberate und Lebenserwartung sowie Migration) und führt auch in schwierigere Konzepte wie Total Fertility Rate und Cohort Fertility Rate und methodische Fallstricke ein. Die von manchen behauptete, sich angeblich abzeichnende Trendwende bei den Geburten (wegen besserer Vereinbarkeit von Beruf und Familie durch mehr Betreuungsplätze und höhere Erwerbstätigkeit der Mütter) hält er für eine „Mär“. Eine höhere Frauenerwerbstätigkeit gehe nicht mit mehr, sondern mit weniger Geburten einher. Er gibt desweiteren einen kurzen Überblick über die Entwicklung der Bevölkerungswissenschaft von Thomas Malthus und Johann Peter Süßmilch bis zu heutigen Forschern und beschreibt in großen Zügen demografische Trends von der Steinzeit bis heute sowie die großen Unterschiede zwischen Entwicklungsländern (mit vielen Kindern) und Industrieländern (tendenziell wenig Kinder, in den Vereinigten Staaten aber doch noch erstaunlich viele).
Seine eigene Erklärung der sinkenden Geburtsrate in allen hochentwickelten Ländern stellt stark auf das veränderte sozialen und wirtschaftliche Umfeld und die erhöhte biografische Unsicherheit ab: Je mehr die Menschen heutzutage flexibel und mobil sein müssen, weil dies der Beruf und die Karriere erfordern, desto schwieriger werden eine längerfristige Bindung in der Partnerschaft und Familienplanung – und desto mehr steigt die Kinderlosigkeit (Frauen bekommen erst sehr spät Kinder oder schaffen / wollen es gar nicht mehr).
Inzwischen bleiben unter den jüngeren Jahrgängen rund ein Viertel aller Frauen lebenslang kinderlos, rechnet man Migrantinnen heraus sind es sogar 30 Prozent. Unter den gut ausgebildeten Frauen liegt der Anteil der lebenslang Kinderlosen noch höher. Durch die sinkende Zahl der Jungen, der arbeitsfähigen Bevölkerungsgruppe insgesamt, schwinde das Wachstumspotential der Volkswirtschaft (und dadurch würde der Druck der Wirtschaft auf die Arbeitnehmer noch größer, meint Birg; außerdem senke die höhere private Ersparnis und das daraus folgende höhere Kapitalangebot den Zins und führe so zu noch mehr Druck auf die Arbeit, weil die Altersvorsorge erschwert wird, sowie zu mehr biografischer Unsicherheit, etwa durch Finanzkrisen, glaubt Birg (diesen Teil seiner Analyse finde ich zu pessimistisch); insgesamt spricht er von einer demografisch-ökonomischen Abwärtsspirale).
Zudem wird es zu einem schärferen Verteilungskampf zwischen Jungen und Alten und um die knapperen Ressourcen der Sozialsysteme kommen, prophezeit er. Birg warnt vor der Illusion, allein durch Zuwanderung die zunehmende demografische Lücke schließen zu wollen. Zum einen müssten dafür Zig-Millionen Zuwanderer ins Land kommen, um die Altersstruktur stabil zu halten – und woher sollen diese kommen? Zum anderen sei die bisherige Zuwanderung schon nicht unproblematisch gewesen.
Mit einer Vielzahl von Statistiken zeigt Birg, dass ein Teil der Migranten nur schwer in den Arbeitsmarkt zu integrieren sind. Ein Drittel haben keinen beruflichen Bildungsabschluss, die Arbeitslosigkeit liegt doppelt so hoch wie unter den Deutschen, der Sozialhilfebezug doppelt so hoch, bei Migranten aus Afrika und dem Nahen Osten sogar drei bis viermal so hoch. Birg schreibt von einer massenhaften Einwanderung bildungsferner Schichten, die mehr Probleme schaffe als löse. Die konfliktträchtige Multiminoritäten-Gesellschaft und Parallelgesellschaften seien in den Großstädten schon heute Realität, dort liegt der Anteil der Menschen ohne Migrationshintergrund bei den Unter-40-Jährigen nicht mehr viel über 50 Prozent.
Im letzten Teil seines Buchs präsentiert Birg einige Vorschläge, um den demografischen Abwärtstrend aufzuhalten. Seine Hauptkritik lautet, dass in den umlagefinanzierten Sozialsystemen Kinderlose ungerechterweise von den Leistungen kinderreicher Familien profitierten, deren Nachwuchs Beiträge zahlt, während die Eltern (vor allem die Mütter) oft nur geringe Renten erhalten. Dies hat auch das Bundesverfassungsgericht in zwei Entscheidungen (im Trümmerfrauenurteil und im Urteil zur Finanzierung der Pflegeversicherung) festgestellt. Die Politik jedoch „boykottiere“ die Urteile, kritisiert Birg. Frankreich hebt er dagegen als Vorbild hervor, weil dort die Demografiepolitik einen viel höheren Stellenwert besitzt und direkt beim Präsidenten angesiedelt sei. Weiter fordert er mehr familienfreundliche Maßnahmen und mehr Betreuungseinrichtungen für Kinder, was ja alle Parteien tun.
Kontrovers aufgenommen werden dürfte Birgs Vorschlag eines „Vorrangs für Eltern bei der Vergabe von Arbeitsplätzen“ im Falle gleich qualifizierter Bewerber – durch eine freiwillige Selbstverpflichtung der Unternehmen – sowie seine Forderung einer „Mütterquote“, um der Doppelbelastung durch Familien- und Erwerbsarbeit Rechnung zu tragen. Er führt nicht aus, wie genau eine „Mütterquote“ aussehen sollte. Für Liberale und Konservative, die allgemein gegen staatliche Quoten sind, ist dieser Vorschlag schwer zu verdauen. Weiter regt er, wie der Verfassungsrechtler Paul Kirchhof, ein Familienwahlrecht an, um kinderreichen Eltern mehr politisches Gewicht zu geben.
Dieses Buch sollte die Öffentlichkeit aufrütteln und eine breitere Diskussion anregen. Manche Aussagen Birgs mag man für zu pessimistisch halten, manche Kritik für zu pauschal. Aber unbestreitbar ist, dass er ein Megathema anspricht, das mit unglaublicher Wucht unsere Gesellschaft, Wirtschaft und Politik erfassen wird.
Herwig Birg: Die alternde Republik und das Versagen der Politik. Lit Verlag, Berlin 2015, 242 Seiten, 34,90 Euro.
Die Rezension ist zuerst erschienen auf www.faz.net/fazit
Die blinden Flecken des (Links-)Liberalismus
(Der folgende Aufsatz wurde leicht überarbeitet und gekürzt unter dem Titel “Auf dem linken Auge blind” im “Schweizer Monat” (Juli/August) veröffentlicht. Dort findet sich auch ein Aufsatz von Karen Horn mit dem Titel “Auf dem rechten Auge blind”.)
Es steht nicht günstig für den Liberalismus. Das Wort „liberal“ ist in einigen Ländern fast schon ein Schimpfwort geworden. Mal heißt es, Liberale befürworteten einen entfesselten Finanzkapitalismus, der in die Krise und Katastrophe geführt habe. Andererseits wird Liberalen in Amerika vorgeworfen, sie stünden für höhere Steuern, wuchernden Wohlfahrtsstaat, Bevormundung und Sprechverbote. Auf all diese Widersprüchlichkeiten soll in diesem Essay eingegangen werden. Die Verwirrung liegt zum Teil an der Unschärfe und Umdeutung politischer Begriffe, denn in Europa und Amerika hat das Wort „liberal“ diametral verschiedene Bedeutungen. Zum Teil gibt es aber auch echte blinde Flecken vor allem des Linksliberalismus.
Die verschärfte Variante des Kampfbegriffs ist der „Neoliberalismus“, für viele Intellektuelle ein echtes Teufelszeug. Der Neoliberalismus befürwortet angeblich eine enthemmte Wirtschaft ohne jegliche staatliche Schranken und Regeln. In der Finanzkrise sei nun offenkundig der unregulierte Markt gescheitert, heißt es. Doch der pauschale Vorwurf des alleinigen Marktversagens ist falsch, denn an der Spekulationsblase, die krachend platzte, waren ja auch staatliche Maßnahmen mitschuldig, vor allem die extrem expansive Geldpolitik.
Doch dass der Vorwurf die Liberalen in Europa so stark in die Defensive gebracht hat, liegt auch an ihren eigenen Versäumnissen und Fehlern. Historisch gesehen haben die Neoliberalen gerade nicht für einen unregulierten Markt und einen Wettbewerb ohne Leitplanken gekämpft, sondern für das Gegenteil: Der Wettbewerb brauche klare Regeln, damit er sich nicht selbst pervertiere, forderten die frühen Neoliberalen wie Walter Eucken oder Alexander Rüstow, die Anfang der dreißiger Jahre das Konzept „Neoliberalismus“ entwickelten. Niemals dürften Großunternehmen, Konzerne oder Kartelle die Spielregeln so zu ihren Gunsten verändern, dass sie die marktwirtschaftlichen Prinzipien faktisch ausschalten können. Genau das ist aber geschehen und hat zur Finanzkrise geführt.
Großbanken waren und sind so groß, dass ihre Schieflage die ganze Volkswirtschaft bedroht. Daher genießen sie de facto eine staatliche Garantie. Die öffentliche Hand sie in der Krise aufgefangen, ihre Verluste wurden zum Teil sozialisiert. Walter Eucken hat die private Haftung als konstitutiv für die Marktwirtschaft betont. Die Haftung wirke „prophylaktisch gegen eine Verschleuderung von Kapital“ und zwinge dazu, die Märkte vorsichtig abzutasten. „Nur bei fehlender Haftung kommt es zu Exzessen und Zügellosigkeit“, warnte Eucken vor mehr als einem halben Jahrhundert. Die als „systemrelevant“ geltenden Banken, die man „too big to fail“ nennt, waren von der Haftung im äußersten Fall befreit.
Das ist keine echte Marktwirtschaft. Man könnte von einem perversen Banken-Sozialismus sprechen, der Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert. Erst die implizite Staatsgarantie (und das viele billige Geld, das die Notenbanken in die Märkte pumpen) verleitet zu übermäßiger Risikoaufnahme. Diese Systemfehler wurden in den achtziger Jahren, als man begann, das Finanzsystem zu liberalisieren, bis kurz vor der Krise nicht ausreichend erkannt. Dass die Liberalen auf diese Lücke in der marktwirtschaftlichen Ordnung nicht deutlich genug hingewiesen haben, hat sie entscheidend in die Defensive gebracht. Nicht gelungen ist es ihnen auch, die staatliche Mitschuld an der Krise durch eine zu lockere Geldpolitik ausreichend klarzumachen.
Erst die Billiggeld-Politik, die eine ewige Hochkonjunktur und den Traum vom Eigenheim für Jedermann in Amerika fördern sollte, hat die Finanzblase so stark aufgepumpt. Nun allerdings entstehen durch die expansive Rettungspolitik der Notenbanken wieder neue Risiken. Wenn die nächste Blase platzt, können die Liberalen wenigstens sagen, diesmal hätten sie davor gewarnt. Nötig ist auch endlich ein glaubwürdiges Haftungs-, Insolvenz- und Abwicklungsregime für Banken – und zudem ein Insolvenzregime für Staaten, damit nicht die Steuerzahler für immer teurere Euro-Rettungsaktionen in Anspruch genommen werden. Die bisherigen institutionellen Arrangements im Euroraum erscheinen noch immer unzureichend.
Die mit der Krise wieder aufgelebte Verdammung von Märkten durch Linke und Linksliberale und auch viele Konservative beschränkt sich nicht nur auf die Finanzwirtschaft. Auch den Freihandel lehnen sie ab. Das geplante Freihandelsabkommen TTIP der Europäischen Union mit den Vereinigten Staaten ist zum bevorzugten Hassprojekt geworden. Erst prägte das ominöse „Chlorhühnchen“ monatelang die Debatte, dann kam die Warnung vor „Gen-Food“ hinzu, was immer allergische Reflexe auslöst, obwohl die EU klargestellt hat, dass auch mit dem Freihandelsabkommen weder Chlorhühnchen noch genetisch veränderten Lebensmittel eingeführt werden dürften. Doch Angst essen Verstand auf. Randaspekte dominieren die Debatte über TTIP. Begründeter sind dagegen Sorgen über die Stellung der Schiedsgerichte zum Investorenschutz. Es wäre besser, diese Gerichte mit ordentlichen Richtern zu besetzen und ihre Verhandlungen öffentlich und transparent zu machen.
All das verstellt vielen Linksliberalen leider den Blick auf die Hauptsache, dass eine Freihandelszone zwischen Europa und Amerika eine gewaltige wirtschaftliche Chance bietet. Es gibt nach wie vor viele nicht-tarifäre Handelshemmnisse. Wenn Sicherheitsstandards für Produkte wie Autos gegenseitig anerkannt würden, ließen sich Hunderte Millionen an doppelten Entwicklungskosten auf beiden Seiten des Atlantiks sparen. Doch die Gegner betrachten den Freihandel mittlerweile ganz generell voll Misstrauen. Die diffuse Sorge beherrscht die Stimmung, dass „die Kleinen“ bei freiem Handel von den Großen untergebuttert würden.
Das war nicht immer so. Die von Richard Cobden geführte „Manchester-Bewegung“, eine richtige Massenbewegung für den Freihandel in den 1840er Jahren, hatte die Arbeiter und ärmeren Haushalte auf ihrer Seite. Von der Abschaffung der Korn-Importzölle versprachen sie sich billigere Nahrungsmittel, ein günstigeres Leben und damit höhere Realeinkommen. Der Triumph des Freihandels hat die Monopolrenten der Großgrundbesitzer abgeschafft und gerade den kleinen Leuten erhebliche Wohlstandsgewinne beschert. Dass viele Linksliberale heute blind sind für die Wohlstandschancen, die intensiverer Wettbewerb und die Marktwirtschaft den Verbrauchern bieten, kann wohl nur mit ideologischer Verblendung erklärt werden.
„Der Markt“ wird grundsätzlich als kaltes, anonymes und gefährliches Wesen gefürchtet, wogegen „der Staat“ seine schützende, wärmende, helfende Hand reiche. Welche Verkennung der Realität: Nicht der Staat, sondern das private Unternehmertum im Wettbewerb („der Markt“) schafft Arbeitsplätze und Wohlstand. Die Kosten der staatlichen Eingriffe und des Protektionismus, der einzelne privilegierte Berufsgruppen und Unternehmen vor Wettbewerb schützt, aber dafür den Verbrauchern höhere Preise aufhalst, werden von diesen Kritikern nicht gesehen.
Ein blinder Fleck der Linken und Linksliberalen ist auch ihre Fehldeutung des Begriffs „starker Staat“: Als Konsequenz der angeblichen Krise des Kapitalismus ertönte allseits der Ruf nach einer Rückkehr des „starken Staats“, der die Finanzmärkte in die Schranken weist und „den Kapitalismus“ zähmt. Die Ideen von John Maynard Keynes, der für konjunkturstimulierende Ausgabenprogramme eintrat, erlebten ein Revival. Umfragen zeigen, dass sich die Bürger insgesamt mehr staatlichen Einfluss auf die Wirtschaft wünschen.
Doch der Staat, der Banken rettet, Unternehmen stützt, Branchen fördert, Subventionen vergibt und die Bevölkerung durch Sozialpolitik ruhig stellt, ist in Wirklichkeit ein getriebener, ein erpressbarer Staat, in Wirklichkeit schwacher Staat. Eucken schrieb vor mehr als einem halben Jahrhundert über das paradoxe Phänomen: „Die Zunahme der Staatstätigkeit nach Umfang und Art verschleiert den Verlust der Autorität des Staates, der mächtig scheint, aber abhängig ist.“ Nun stehen manche Staaten am Rande des Staatsbankrotts, der nur durch die Niedrigzinspolitik und Anleihekäufe der Notenbanken verdeckt wird. Nun wird die Verletzlichkeit des überdehnten Staaten deutlich.
Eine völlige Umwertung des Begriffs „liberal“ hat in den Vereinigten Staaten stattgefunden und verwirrt bis heute. Liberal ist dort nicht mehr liberal. Die „progressive“ Linke hat seit dem frühen 20. Jahrhundert die Bezeichnung „liberal“ usurpiert. Während die älteren, klassischen Liberalen die bürgerliche Unabhängigkeit von staatlichen Eingriffen und das Recht auf Eigenständigkeit und Eigenverantwortung verteidigten, drehten die neuen „Liberalen“ den Sinn des Wortes um. Der einflussreiche Sozialwissenschaftler John Dewey schrieb in „Liberalism and Social Action“ (1935): Die Ziele des Liberalismus seien nicht mehr durch Selbstkoordinierung der Menschen in der Marktwirtschaft zu erreichen, sondern „nur durch das Gegenteil der Mittel, denen der frühe Liberalismus sich verpflichtet fühlt“. Dewey forderte eine „organisierte soziale Planung“.
Seit dieser Umdeutung stehen die amerikanischen „Liberals“ für mehr Staat („Wohlfahrtsstaat“), mehr Eingriffe in die unternehmerische und persönliche Freiheit und höhere Steuern. Seit den siebziger Jahren haben sie sich zudem verstärkt der Veränderung der bürgerlichen Kultur zugewandt. Der Staat sorgt nicht mehr nur für materielle Umverteilungsprogramme, sondern er soll die Menschen neu erziehen, die Gesellschaft gleicher zu machen und von Vorurteilen reinigen. Über Antidiskriminierungsvorgaben soll etwaiges diskriminierendes Handeln von Privatunternehmen verboten werden, die Sprachgebote der „Political Correctness“ regulieren die Rede und letztlich das Sprechen der Bürger.
Der amerikanische Juraprofessor David Bernstein hat in seinem lesenswerten Buch „You can’t say that“ mit vielen absurden Beispielen gezeigt, wie das Zusammenspiel von Political Correctness und Antidiskriminierungsgesetzen die persönliche und die unternehmerische Freiheit einschränken. Es hat sich eine regelrechte Antidiskriminierungsindustrie gebildet, die Unternehmer und Vermieter vor Gericht zerrt und Schadenersatz einklagt, wenn nur den Hauch einer unkorrekten Einstellung besteht. Diese Antidiskriminierungsindustrie macht Milliardenumsätze. Statt Meinungs- und Handlungsfreiheit herrscht ein zunehmend rigides Klima, es gibt einen kaum verhohlenen Zwang zum Reden und Verhalten gemäß der Political Correctness.
Liberale Ökonomen wie Milton Friedman waren dagegen, private Diskriminierung in einer liberalen Gesellschaft per Gesetz zu verbieten, weil dies unverhältnismäßig in die Freiheit eingreift. Friedman argumentierte, dass der Markt als unpersönliches, anonymes Koordinierungsinstrument zur „Farbenblindheit“ tendiere. Marktwirtschaft und offener Wettbewerb böten auch Außenseitern eine Chance. Unternehmer, die nicht die objektiv besten und produktivsten Mitarbeiter oder Bewerber auswählen, schaden sich selbst, weil ihnen Gewinne entgehen. Dennoch ist „Diskriminieren“ nach liberaler Lesart ein Freiheitsrecht, es besteht auch eine negative Vertragsfreiheit. Hannah Arendt, die große Kämpferin gegen totalitäre Tendenzen, schrieb in einem ihrer Essays: „Diskriminierung ist ein ebenso unabdingbares gesellschaftliches Recht wie Gleichheit ein politisches ist.“
Der Gegensatz zwischen dem echten Liberalismus und den amerikanischen Liberals könnte nicht krasser sein: Statt die bürgerliche Autonomie des Handelns und Denkens zu fordern und die Freiheit unkonditioniert zu verteidigen, plädieren die heutigen „Liberals“ in den USA für implizite und explizite Vorgaben, die das Handeln und Denken zu regulieren. Und die politische Gleichheit wurde durch „positive Diskriminierung“ durch den Staat pervertiert, der im Rahmen der „Affirmative Action“-Programme seit vierzig Jahren etwa bei der Zulassung zu Universitäten eine Vorzugsbehandlung mit Sonderquoten für gewisse ethnische Minderheiten betreibt – auch wenn der Erfolg dieser „positiven Diskriminierung“ äußerst umstritten ist. In einigen europäischen Ländern und nun auch in Deutschland gibt der Staat größeren Unternehmen im Management eine Frauenquote vor. Auch dies ist ein Übergriff in die unternehmerische Freiheit, den echte Liberale verurteilen, viele Linksliberale jedoch bejubeln.
Wie Eric Gujer, der neue NZZ-Chefredaktor, in seiner glänzenden Antrittsrede betonte, ist der Liberalismus eine Geistesrichtung mit vielen Schattierungen. Im Kern des echten Liberalismus jedoch steckt zweierlei: die Forderung nach wirtschaftlicher Freiheit und der Ruf nach geistiger Freiheit. Die europäische Aufklärung definierte den Mensch einst als vernunftbegabtes Wesen. Durch selbständiges Denken und Handeln soll der Mensch sich aus seiner „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Kant) befreien. Viele linksliberale oder auch konservative Politiker und Verbraucherschützer behandeln die Menschen aber wieder wie Unmündige, wie Kinder. Diese müssen vor allerlei (selbst)schädigendem Verhalten geschützt werden. Gegen das Rauchen, gegen Alkohol, gegen zu fette Speisen und zu süße Getränke werden Verbots- und Warnschilder errichtet.
Wie Gouvernanten spielen sich Politiker und Beamte auf, die dem als unvernünftig, unmündig erachteten Bürger einen besseren Lebensstil anerziehen wollen. Der umsorgende Nanny-State ist für nicht wenige Politiker und Gutmenschen eine verlockende Utopie. Auch Ökonomen reichen dazu die Hand, die mit allerlei Experimenten das „irrationale“ Verhalten der Menschen nachzuweisen trachten. Die neue Verhaltenssteuerung läuft unter dem schillernden Etikett des „liberalen Paternalismus“. Der blinde Fleck dieser linksliberalen Tugendwächter-Gesinnung ist ihre mangelnde Sensibilität dafür, dass die Aufgabe des Leitbilds des mündigen Bürgers und Verbrauchers auf eine Rutschbahn in einen bevormundenden, hart paternalistischen Staat führt.
Eine liberale Alternative zur Bevormundung wäre es, die Eigenverantwortung zu stärken. Wer raucht, übermäßig Alkohol trinkt, zu riskanten oder gar keinen Sport treibt und so Gesundheitsrisiken eingeht, müsste dafür höhere, risikoadäquate Beiträge für die Krankenversicherung entrichten, die die Gesundheitskosten seines persönlichen Verhaltens reflektieren. Aber davon will man nichts wissen. Die paradoxe Tendenz des Gouvernanten-Staates ist es, dass er einerseits Risiken kollektiviert und damit Vorsorge und Eigenverantwortung untergräbt, andererseits nachträglich korrigierend und bevormundend eingreift, um den „Moral Hazard“ der kollektiven Sicherungssysteme zu stoppen.
Wenn wir von der europäischen Aufklärung sprechen, sollten wir zwei unterschiedliche Stränge unterscheiden, wie das Friedrich August von Hayek getan hat: Auf der einen Seite steht die französische Aufklärung mit der Gruppe der Enzyklopädisten und vor allem Rousseau, mit ihrem rationalistisch-kartesianischen Denken, das allzu leicht in eine Machbarkeits- und Planbarkeitshybris verfiel: Wissenschaftler, Philosophen oder staatliche Planer könnten quasi auf dem Reißbrett eine neue, bessere Gesellschaft entwerfen. Auf der anderen Seite steht die englisch-schottische Aufklärung, die zwar den vernunftbegabten Menschen Freiräume geben will, aber auch die Grenzen der Vernunft und Planbarkeit anerkennt. Sie respektiert evolutionär gewachsene Traditionen und Institutionen.
Diese Form des liberalen Denkens, das von Hume und Ferguson über Burke bis zu Hayek reicht, hat Anknüpfungspunkte an konservative Denker. Obwohl Hayek sich öffentlich strikt von kollektivistischen Konservativen distanzierte, hat er doch viele Berührungspunkte mit einem freiheitlichen Konservatismus. Noch mehr als Hayek hat Wilhelm Röpke erkannt, dass Liberale das Bedürfnis nach tragfähigen sozialen Bindungen und überschaubaren, subsidiären Netzwerken der Solidarität nicht als romantisches Klimbim abtun dürfen. Erst die entwurzelten, „vermassten“ Menschen werden anfällig für die Verlockungen des zentralistischen Wohlfahrtsstaates, der Sicherheit verspricht, aber Freiheit nimmt.
Das Verhältnis von Individuum und Staat ist ein zentraler Topos liberalen Denkens. Notwendig ist es, die richtige Balance zwischen der Freiheit des Einzelnen und der Notwendigkeit sozialer Zusammenhänge zu finden. Manche Linksliberale und auch Radikalliberale machen den Fehler, ein völlig bindungsloses, pseudo-emanzipiertes Individuum als höchste Form der Freiheit zu imaginieren. Die paradoxe Folge, dass schrankenlose Freiheitsausübung nur zu leicht in neue Formen der Abhängigkeit kippt, haben sie übersehen. Viele 68er haben diesen Fehler gemacht. Hayek sprach von einem „falschen Individualismus“, der die kleineren Gruppen wie die Familie oder die gewachsenen Gemeinschaften „in Atome auflösen möchte“. Der „echte Individualismus“ hingegen bejahe den Wert der bürgerlichen Familie und der kleinen Gruppen, schrieb Hayek.
Die 68er-Bewegung, die bürgerliche Normen und Lebensformen ablehnte, haben einige als „Fundamentalliberalisierung“ (Jürgen Habermas) bezeichnet. Dabei ist im Gefolge der 68er in vielen Ländern Europas ein Wohlfahrtsstaat aufgebaut worden, der gerade der Mittelschicht finanziell die Luft zum Atmen nimmt und die Unterschichten in den Netzen einer staatlichen Sozialindustrie gefangen hält. Die alleinerziehenden Mütter, die einem hohen Armutsrisiko ausgesetzt sind, belegen dies: An die Stelle der bürgerlichen Familie tritt Vater (Sozial-)Staat. Um das Geld für diese und viele andere Sozialleistungen zu bekommen, erhebt dieser Staat so hohe Steuern und Abgaben, dass es für junge Familien zunehmend schwierig wird, sich eine Existenz mit einem eigenen Haus und einer Absicherung fürs Alter aufzubauen. Darunter leiden auch die Geburtenraten.
Ein weiterer blinder Fleck des Linksliberalismus ist sein Demografie-Agnostizismus. Dass in den meisten westeuropäischen Staaten seit mehr als einer Generation die Geburtenraten um rund ein Drittel unter jenem Niveau liegen, das die Bevölkerung erhalten würde, interessiert die „falschen Individualisten“ schlicht nicht. Darauf angesprochen, wird auf Migranten verwiesen, die die demografische Lücke doch schließen könnten. Auch einige klassische Liberale plädieren für eine „freie Migration“. Eine völlige Öffnung der Grenzen für alle Einwanderungswilligen würde aber eine Völkerwanderung bedeuten. Während Europa demografisch implodiert, explodieren die Bevölkerungszahlen Afrikas. Nach UN-Schätzung wird die Einwohnerzahl Afrikas von gut einer Milliarde bis Ende des 21. Jahrhunderts auf gut das Doppelte oder mehr steigen. Allein in Nigeria wird eine Zunahme um 740 Millionen Menschen erwartet. Etwa ein Drittel der Afrikaner in den armen Staaten würde laut Umfragen gerne nach Europa kommen.
Während eine nach Qualifikation gesteuerte Zuwanderung für Wirtschaft Europas notwendig und wünschenswert ist, gibt es Schattenseiten der bislang wenig gesteuerten Einwanderung, die aber im linksliberalen Diskurs der schönen neuen Multikulti-Welt weitgehend ausgeblendet werden. Der Entwicklungsökonom nennt die Einwanderung gar ein „liberales Tabu-Thema“. Wenn einfache Bürger ihr Viertel ethnisch-kulturell überfremdet empfinden, folge eine „Litanei an Beschwichtigungen“ oder der Rassismus-Vorwurf. Aber das angebliche Recht auf freie Migration der jungen Afrikaner, assistiert von Schleusern, „findet seine Grenze in der beschränkten Aufnahmekapazität Europas und dem berechtigten Anliegen der Europäer, ihre Identität zu bewahren“, wie es NZZ-Chefredaktor Gujer in seiner Antrittsrede treffen formuliert hat.
Eine unkontrollierte Massenmigration kann zu einer übergroßen ethnisch-kulturellen Diversität und letztlich zum Zusammenbruch der erfolgreichen westlich-liberalen Sozialmodelle führen, warnt Collier in seinem Buch „Exodus“. Die Arroganz, mit der die linksliberalen Eliten solche Sorgen lange Zeit abgetan oder als xenophob denunziert haben, ist sagenhaft. In französischen Vorstädten oder englischen Kommunen mit hohem migrantisch-muslimischem Bevölkerungsanteil ist die Freiheit wie die Sicherheit der angestammten Bevölkerung gleichermaßen gefährdet. Es gibt Orte, in denen selbsternannte Scharia-Patrouillen das Kommando übernommen, weil der liberale Rechtsstaat sich zurückgezogen hat. Emanzipierte, nichtverschleierte Frauen, Homosexuelle, als „Ungläubige“ denunzierte Juden und Christen („Jude“ sowie auch „Christ“ sind auf manchen Schulhöfen gängige Schimpfworte) sowie andere Minderheiten und Säkulare stehen unter Druck.
Das sind die von den Linksliberalen negierten Schattenseiten der Multikulti-Welt. Die Tendenzen einer schleichenden Islamisierung leugnen sie, Kritiker wurden als Islamophobe denunziert. Aber nicht erst seit den tödlichen Anschlägen von Paris steht die Meinungsfreiheit akut unter Beschuss. Voll Sorge sagt NZZ-Chefredaktor Gujer dazu: „Haben wir dann den Mut, uns wirklich für die Meinungsfreiheit starkzumachen und uns den Einschüchterungen durch muslimische Scharfmacher und ihre nützlichen Idioten in den Reihen der Multikulti-Anhänger zu widersetzen? Ich zweifle daran.“ Dieser blinde Fleckt der Linksliberalen, die vor lauter vermeintlicher Toleranz einer neuen, gefährlichen religiösen Intoleranz die Türe geöffnet haben, wird sich noch bitter rächen.
Während die kulturelle Identität Europas dabei ist zu verschwimmen, wird umso verbissener die politische Einigung des Kontinents vorangetrieben. Die Euro-Krise dient manchen sogar noch als Katalysator einer weiteren Integration, die letztlich eine Verlagerung von Kompetenzen weg von den demokratisch konstituierten Nationalstaaten hin zu den wenig demokratischen Brüsseler Institutionen bedeutet. Die politischen und intellektuellen Eliten Europas sind geradezu besessen von der Vision einer immer engeren Integration. Als „Finalität“ (Joschka Fischer) spukt noch immer die Vision „Vereinigte Staaten von Europa“ in den Köpfen vieler Linker, Linksliberaler und Christdemokraten (und sogar des „liberalen“ Spitzenmanns im EU-Parlament Guy Verhofstadt).
Echte Liberale sollten skeptisch bleiben, zumal ein Superstaat mit seiner Zentralisierungs-, Regulierungs- und Bürokratisierungstendenzen keineswegs mehr wirtschaftlichen Erfolg oder mehr Freiheit bedeutet. Das liberale Konzept der europäischen Einigung bestand darin, eine Integration „von unten“ zu fördern. Freier Handel sowie die Freizügigkeit von Arbeitnehmern und Kapital ermöglichen immer mehr Kontakte, Verflechtung und gegenseitiges Verständnis, wobei die Vielfalt gewahrt bleibt. Die Integration „von oben“ durch europäische superstaatliche Institutionen, politische Gremien, Verordnungen und Richtlinien sehen echte Liberale hoch kritisch. Wilhelm Röpke warnte vor mehr als fünfzig Jahren: „Wenn wir versuchen wollten, Europa zentralistisch zu organisieren, einer planwirtschaftlichen Bürokratie zu unterwerfen und gleichzeitig zu einem mehr oder weniger geschlossenen Block zu schmieden, so ist das nicht weniger als ein Verrat an Europa.“
Was ist der Kern der liberalen Philosophie? Die Verteidigung der Freiheit und Eigenverantwortung der einzelnen Bürger und des freien Unternehmertum in einer klaren Wettbewerbsordnung. Auch die sozialen und kulturellen Grundlagen einer freiheitlichen Gesellschaft zählen dazu. Die Umdeutung der liberalen Philosophie durch Linksliberale in eine staatliche Bevormundungsideologie hat viel Schaden angerichtet. „Wenn sich die Begriffe verwirren, ist die Welt in Unordnung“, lautet eine alte konfuzianische Weisheit. Es wird eine intellektuelle Mammutaufgabe sein, die liberale Verwirrung zu überwinden und die Begriffe wieder zu klären.
Dr. Philip Plickert ist Ökonom und Redakteur bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Er lehrt Wirtschaftsgeschichte an den Universitäten Frankfurt und Siegen.
Das Milliarden-Geschäft der Schlepper
Der Ansturm der Flüchtlinge auf Europa nimmt zu – und das Mittelmeer wird vielfach zu einer Todesfalle. 2014 hat sich die Zahl der registrierten illegalen Einwanderer über das Mittelmeer schon auf 220.000 vervierfacht. In diesem Jahr werden es wohl noch sehr viel mehr – und ebenso steigt die Zahl der Toten, weil skrupellose Schlepperbanden viel zu viele Menschen auf völlig seeuntaugliche Boote pressen, die leicht kentern. Am Wochenende ertranken wohl rund 700 Menschen vor der libyschen Küste, zum Teil eingesperrt auf dem Zwischendeck. Die Flüchtlinge zahlen für die Überfahrt Tausende Euro. Mit einem vollgepackten größeren Frachter, auf dem mehrere hundert zahlende Migranten sitzen, kann ein Schlepper bei einer einzigen Fahrt mehr als eine, vielleicht auch drei oder vier Millionen Euro Gewinn machen. Für die Schleuser ist es ein Milliarden-Geschäft!
Mehr dazu hier im F.A.Z.-Artikel.
Angesichts der Bevölkerungsprognosen für Afrika kann einem ganz schwindelig werden: Bis Ende des Jahrhunderts prognostizieren die UN eine Verdreifachung der Zahl von jetzt eine Milliarde Afrikaner. Allein für Nigeria wird von einem Anstieg der Einwohnerzahl um 740 Millionen Menschen ausgegangen. Wenn diese Staaten – wonach es aussieht – weiterhin überwiegend arm bleiben, weil die Wirtschaft langsamer wächst als die Bevölkerung, dann wird der Migrationsdruck nach Europa extrem steigen. Wie gehen wir damit um?
Es wäre höchste Zeit, dass man die kriminellen Schleuserbanden konsequent bekämpft, illegale Einwanderer konsequent abfängt und gleichzeitig Auffang- und Asylantragszentren in Nordafrika schafft. Solche Zentren hat schon vor einem Jahrzehnt der damalige Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) angeregt, jetzt setzt sich Innenminister Thomas de Maizière (CDU) dafür ein. Viele Fragen sind offen, aber man sollte den Plan ernsthaft verfolgen. Der bekannte Entwicklungsökonom Paul Collier aus Oxford fordert die Europäer auf, illegale Einwanderer, die übers Mittelmeer kommen, konsequent zurückzuschicken, um nicht noch mehr zu der lebensgefährlichen Reise zu ermutigen; gleichzeitig plädiert Collier für mehr legale Möglichkeiten der Einreise, etwa durch größere Kontingente für Arbeitsmigranten.
Mit den jetzigen Rettungsaktionen jedenfalls wird (unbeabsichtigt) das Geschäft der Schlepper unterstützt. So werden immer mehr Menschen ermutigt, die höllisch gefährliche Fahrt anzutreten. Die Schlepper bringen irgendwo an einem Hafen oder Strand in Libyen ihre zahlenden Kunden an Bord (zum Teil mit vorgehaltener Waffe), werfen den Motor an, bringen das Schiff in Richtung Norden in Bewegung und setzen dann gleich einen Notruf ab – damit die Flüchtlinge von der Küstenwache oder einem Handelsschiff aufgesammelt werden. So berichtet es de Maizière. Nicht “die EU mordet”, wie das der Kollege Prantl in der SZ schreibt, sondern die Schleppermafia.