Ein beeindruckendes Leben geht zu Ende. Zweimal durfte ich ihn direkt erleben. Joseph Ratzinger hat vielen Menschen Orientierung gegeben in einer Zeit der Beliebigkeit der Werte. Dafür gebührt ihm Dank.
Der emeritierte Papst Benedikt XVI. ist sehr krank, teilt sein Nachfolger Franziskus bei der Generalaudienz mit. Wir sollen für Benedikt beten. Sein Zustand verschlechtert sich offenbar. Die Nachricht macht traurig. Natürlich ist es unvermeidlich, dass ein 95-Jähriger irgendwann stirbt; dass ein so langes, erfülltes Leben einmal zu Ende geht. Aber der Abschied von Benedikt wird schwerfallen. Und mit ihm scheint auch die Ära des christlichen Europas auszulaufen.
Joseph Ratzinger, geboren 1927 in Marktl am Inn als Sohn eines Dorfgendarmen, gegen seinen Willen in die Hitlerjugend eingezogen, bei Kriegsende noch als Flakhelfer eingesetzt, nach einem Blitzstudium schon mit 31 Jahren Theologieprofessor, als persönlich bescheidener, fachlich herausragender Theologe bekannt, der 1977 Erzbischof von München-Freising, 1982 Chef der Glaubenskongregation wurde und von 2005 bis 2013 erster deutscher Papst seit Menschengedenken, war für viele eine Reizfigur, für manche Linke und Linksliberale gar eine Hassfigur. Schon als Münchner Erzbischof und dann als langjähriger Präfekt der Glaubenskongregation in Rom, der eine kirchlich-konservative Linie vertrat, hatte er sich viel Feinde gemacht, gerade auch in den deutschen Medien. „Hardliner“ und „Reaktionär“ lauteten die üblichen Etiketten. Ratzinger ging gegen die marxistisch angehauchte sozialistische „Befreiungstheologie“ in Lateinamerika vor. Als „Gottes Rottweiler“ haben ihn manche Gegner dafür bezeichnet.
Man konnte die Schnappatmung in vielen Redaktionsstuben förmlich spüren, als er im April 2005, vier Monate nach dem Tod von Johannes Paul II., überraschend zum Nachfolger seines Freundes Carol Wojtylas gewählt wurde. Die legendäre „Bild“-Schlagzeile „Wir sind Papst“ traf den Stolz eines Großteils der Bevölkerung über diese Wahl, doch in intellektuellen Kreisen kräuselten viele angewidert die Stirn. Ich erinnere mich noch an einen hämischen Kommentar im SZ-Feuilleton aus der Feder von Timothy Garton Ash aus Oxford, der sich am Papstnamen „Benedikt“ aufhängte: Mit Benedikt (von Nursia) habe das Christentum in Europa angefangen, mit dem neuen Benedikt werde es enden, prophezeite er höhnisch. Unausweichlich sei die weitere, beschleunigte Säkularisierung und Abwendung von der Kirche. Dass der Papst auch viel Begeisterung gerade im einfachen deutschen Kirchenvolk hervorrief, übersah man gerne. Ich habe Benedikt zweimal live gesehen, jedes Mal hat er mich beeindruckt.
Im September 2006 bereiste Benedikt seine bayerische Heimat auf einer umjubelten Pilgerreise und predigte vor Hunderttausenden Gläubigen in München, Regensburg, Altötting und Freising. Ich war damals 27 Jahre alt, schrieb die letzten Seiten meiner Dissertation. Mit der Kirche hatte ich in meiner Jugend gar nichts am Hut. Als 18-Jähriger war ich aus der evangelischen Kirche ausgetreten. Aber danach begann eine Suche. Eine Welt, in der es gar keine Kirche als ethisch-moralische Instanz gebe, konnte ich mir nicht vorstellen. Meine Suche führte mich, unterstützt durch Freunde in Österreich (ich denke an die beiden Alberts, an eine Wandertour vom Wienerwald bis nach Mariazell), schließlich zur katholischen Kirche. Die Schönheit der Riten und der Liturgie, der Gebete, der Musik hat mich ergriffen. Münchens älteste Pfarrkirche, die barocke Kirche St. Peter am Rindermarkt, wurde ein sonntäglicher Anlaufpunkt für mich als Student.
Die Zeit meiner Konversion war Benedikts Amtszeit. Seine „Einführung in das Christentum“, entstanden in seiner Tübinger Zeit, und die beiden Jesus-Bände habe ich gekauft (muss aber zugeben, dass ich sie nicht komplett gelesen haben – jetzt wäre eigentlich eine gute Gelegenheit dazu). Benedikt hat sich gegen die Tendenz zur totalen Relativierung von Werten gestemmt, die heute vorherrscht.
Natürlich wollte ich den Papst unbedingt sehen, als er im September 2006 nach Bayern kam. Ich radelte von Schwabing zum Messegeländer Riem. Etwa eine Viertel Million Menschen haben im strahlenden Sonnenschein den Gottesdienst mit Benedikt gefeiert. Ich erinnere mich, dass es ein heißer Spätsommertag war, die Sonne brannte, viele Leute japsten nach Mineralwasser. Benedikt stand unter einem weißen, segelartigen Zeltdach; hinter ihm ein romanisches Kruzifix, mehr als tausend Jahre alt. Seine Stimme klang klar, etwas vergeistigt. Der Besuch des deutschen Papstes in meiner Heimatstadt bleibt für mich ein unvergessliches Ereignis.
Zwei Jahre später war ich zu einer Reise in den Vatikan eingeladen, zusammen mit einer kleinen Gruppe Journalisten und Publizisten. Wir schliefen in einem einfachen Heim für Ordensleute, das wie eine Jugendherberge wirkte, an der Via delle Fornaci. Am Sonntag besuchten wir eine Messe im Petersdom, die mit Dutzenden Bischöfen aus dem Nahen Osten und dem ganzen Orient gefeiert wurde, die zu einer Synode nach Rom gekommen waren. Es war phantastisch und faszinierend, christliche Lieder und Gebete in Lateinisch, Griechisch, Aramäisch und arabischen Sprachen zu hören. Die Kirche als globale, universelle Institution wurde greifbar. Benedikt predigte, seine Stimme klang aber schwächer, gebrochen. Am nächsten Vormittag trafen wir auch seinen Sekretär Georg Gänswein, der einen sehr sympathischen und klugen Eindruck machte. Abends aßen wir in der Residenza Paolo VI., einem feinen Hotel direkt an Berninis Kolonaden, und tranken einen Cocktail auf der Terrasse, von der man den schönsten Blick auf den Petersdom hat.
Die geheimnisvolle Aura dieser von Geschichte, Kultur und Religion getränkten und verzauberten Stadt lässt kaum jemanden kalt. Zweitausend Jahre lang hat die Kirche Europa geprägt. Die christlichen Werte: Menschenwürde, begründet mit der Gottesebenbildlichkeit, Nächstenliebe und Sorge für die Schwächeren, sowie die Freiheit, die Gott den Menschen gegeben hat, mit dem Auftrag, dass wir verantwortungsvoll leben. Wer beim Stichwort Kirche nur an Inquisition, Unterdrückung, Bevormundung und Dogmatismus denkt, der verkennt völlig das überwiegend Gute, das Europa und die westliche Welt dem Christentum verdankt. Es ist kein Zufall, dass es in der islamischen Welt diese freiheitliche Auffassung vom selbstbestimmten Individuum wie im Westen eben nicht gibt.
Benedikt war ein Intellektueller auf dem Papstthron, dessen Denken um die Verbindung von Glauben und Vernunft kreiste. Er scheute auch vor unbequemen Themen nicht zurück; weder in der Auseinandersetzung mit der ideologisch verqueren Befreiungstheologie noch mit dem Islam war er ein Leisetreter. 2015 hat er ganz überraschend aus gesundheitlichen Gründen seinen Rücktritt vom Stuhl Petri verkündet. Sein Nachfolger Franziskus aus Argentinien hat mich nicht so überzeugt. Sicherlich ein menschlich sympathischer Typ, aber man hörte von ihm zu viele unreflektierte, unausgegorene Äußerungen. Franziskus ist leider vom Peronismus seines Heimatlandes geprägt, durch diese Brille betrachtet er die Welt. Auch außenpolitisch irrlichtert er.
Trotzdem zieht Franziskus bei weitem nicht so viel scharfe Kritik in Deutschland auf sich wie Benedikt. Als Benedikt 2011 eine Rede im Bundestag hielt, boykottierten rund hundert Abgeordnete von Linken, Grünen und SPD den Auftritt. Ihnen entging eine gehaltvolle Rede über Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden. Wie in vielen Predigten kritisierte er die zunehmende Glaubensferne und Geringschätzung der Religion zugunsten des rein rationalen Denkens im Sinne der Naturwissenschaft. Natur und Schöpfung dürften aber nicht nur nach funktionalen Gesichtspunkten gesehen werden. Am Ende waren sogar die Grünen ganz angetan von dem Auftritt.
Der tiefsitzende Hass gegen Benedikt hat ihn aber weiter verfolgt. Als dieses Jahr ein Gutachten über Versäumnisse im Umgang mit Missbrauchstätern in der Erzdiözese München-Freising in seiner Bischofszeit vorgelegt wurde und Benedikt, immerhin fast 95 Jahre alt, zu den schon vier Jahrzehnte zurückliegenden Vorgängen über eine Sitzung eine falsche Aussage machte, geiferten manche Journalisten tagelang ob seiner „Lüge“. Die Möglichkeit, dass ihn die Erinnerung getrogen hatte, mildernde Umstände angesichts seines Alters ließen sie nicht gelten. Endlich gab es nochmal eine Gelegenheit, den greisen Benedikt medial zu kreuzigen.
In der zweitausendjährigen Geschichte des Christentums gab es große Päpste und verruchte Gestalten auf Petris Stuhl. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat Johannes Paul II. geschichtlich eine herausragende Rolle gespielt, weil er der freien Welt half, den Kalten Krieg zu gewinnen. Auch Ratzinger zählt für mich zu den Großen. Den Großtrend der Säkularisierung konnte er nicht aufhalten. Das Christentum, das die westliche Welt geprägt hat, erscheint jetzt in Europa immer mehr auf dem absteigenden Ast. Die Zahl der Austritte aus der Kirche nimmt zu. Zwar wächst die Zahl der Christen in anderen Erdteilen, doch die etablierten Kirchen – die katholische wie auch die verschiedenen protestantischen – verlieren an Boden, am stärksten in Europa.
Christliche Traditionen, die zentralen Glaubensinhalte werden kaum noch an die jüngeren Generationen weitergegeben, der Faden ist in vielen Familien gerissen. In einer hedonistischen, selbstbezogenen, vermeintlich total-aufgeklärten Zeit verdunstet der Glaube. Kirchliche Riten sind vielen fremd. Hat Timothy Garton Ash recht behalten? Scheinbar ja, aber in einem tieferen Sinne doch nicht.
Der Boden Europas ist und bleibt christlich getränkt. Selbst in einer immer stärker säkularisierten Welt bleiben christliche Werte zentral. Tom Holland schreibt in seinem wunderbaren Buch „Dominion“: „Obwohl die Kirchenbänke leer sind, ist der Westen nach wie vor fest in seiner christlichen Vergangenheit verankert.“ Die Kirche ist nicht mehr Volkskirche, sondern wird wieder Minderheitenkirche sein, wie in der Anfangszeit des Christentums. Darin kann auch eine Chance liegen. Die Kirchen sollten den vergeblichen Versuch aufgeben, dem Zeitgeist hinterherzurennen, und könnten sich bewusst für eine „Benedikt Option“ entscheiden, wie das Rod Dreher nennt: Kleine Gemeinden, die aber den Glauben freudig und authentisch leben, nicht eine verwässerte Version. Wenn Benedikt die Augen für immer schließt, dann wird dieser tiefgläubige, kluge Mensch es nicht verbittert, sondern in der Hoffnung tun, dass die Kirche in Europa eine Zukunft hat.