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Der*die Erlkönig*in

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Gehört Gender-Lyrik die Zukunft?

Vor kurzem kursierte auf Twitter ein Ausschnitt aus einem literaturwissenschaftlichen Seminar. Es ging laut Betreff um die „Neuartigkeit der Naturerfahrung in Goethes Sesenheimer Lyrik“. Ein Teilnehmer schrieb dann einen Satz zu Marcel Proust, der folgendermaßen lautete – Achtung: „Marcel Proust definiert eine*n gute*n Stilisten*in als eine*n Künstler*in, der*die neue Erkenntnisse …“.

Sie mögen nun einwenden, dass dieser Satz gerade kein Beispiel für guten Stil, sondern für stilistische Grausamkeit und Vergewaltigung der Sprache darstellt. Aber vielleicht gehört der Gender-Lyrik die Zukunft? Denn gerade in den Sprachwissenschaften ist der Drang zur „geschlechtergerechten“ Sprache ja bekanntlich besonders groß. Dann müssten auch bekannte Werke der Lyrik und Weltliteratur folgerichtig um- und neugeschrieben werden.

Fangen wir mit Goethes Ballade „Der*die Erlkönig*in“ an:

Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Es ist der*die*das Vater*Mutter*Elternteil mit seinem*ihrem Kind*
Er*sie*es hat den*das Knaben*Mädchen wohl in dem Arm,
Er*sie*es fasst ihn*sie*es sicher, er*sie*es hält ihn*sie*es warm.

Mein*e Sohn*Tochter*Kind, was birgst du so bang dein Gesicht? –
Siehst, Vater*Mutter*Elternteil, du den*die Erlkönig*in nicht? …

Aber auch Goethes „Der*die Zauberlehrling*in“ bietet sich an:

Hat der*die alte Hexenmeister*in
sich doch einmal wegbegeben!
Und nun sollen seine*ihre Geister*
auch nach meinem Willen leben.

Besonders reaktionären Geistern wird die stilistische Neuerung nicht unmittelbar als schön einleuchten. Aber das sind Probleme einer älteren Generation, die sich dem geschlechtergerechten Fortschritt verweigert, oder? Doch was geschieht im Mutterland von Marcel Proust, in Frankreich? Dort legt man offenbar mehr Wert auf guten Stil als auf „geschlechtergeschechte“ Sprache. Die reaktionäre Regierung von Emmanuel Macron hat in Gestalt des Bildungsministers Jean-Michel Blanquers ein Verbot des schriftlichen „Gendern“ in den Schulen beschlossen.

Auch westlich des Rheins war die Gender-Seuche auf dem Vormarsch: Dort verwendeten progressive Kreise statt der Sterne (wie in „Politiker*innen“) neuerdings Pünktchen wie in „député.e.s“ (Parlamentarier*innen) oder „électeur.rice.s“ (Wähler*innen). Das Thema spaltet Gesellschaft und Politik. Die französische Bildungsgewerkschaft SUD warf Blanquer vor, der „pädagogischen Gemeinschaft seine eigene Rückständigkeit aufzuzwingen“. Aus der Bevölkerung, darf man annehmen, gab es überwiegend Zustimmung zu dem Schritt, die schwer auszusprechenden Pünktchen nicht zur schulischen Norm werden zu lassen.

Zu wünschen wäre, dass „die Hexenmeister*innen“ der Gender-Sprache auch in Deutschland gestoppt werden.