Wer das Kaiserreich auf Pickelhauben und Marschmusik reduziert, liegt falsch. In dieser wirtschaftlich dynamischen Zeit verwandelte sich Deutschland vom Agrarland zur führenden Industrienation und feierte große Erfolge in Forschung und Wissenschaft.
Der französische Beobachter war verblüfft. Bewundernd, auch etwas besorgt schrieb er: „Das bis dahin arme Deutschland wurde mit einem Schlage reich.“ Die Vorhaben der Deutschen seien „kolossal“, die Ausführung „ultraschnell“, notierte er. Ein gewaltiges Anwachsen des Wohlstands sei unübersehbar. Heutige Wirtschaftshistoriker gehen davon aus, dass sich in der Epoche des Kaiserreichs von 1871 bis 1914 das deutsche Volkseinkommen auf über 50 Milliarden Gold-Mark mehr als verdreifacht hat.
In den Städten erstaunte ihn kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs „die luxuriöse Ausstattung der Wohnungen, der Möbel, der Kleidung und der Tafel. In zwanzig Jahren haben sich die deutschen Gewohnheiten selbst beim Mittel- und Kleinbürgertum vollkommen verändert.“ Der Genuss von Weißbrot und Wein sei allgemein üblich geworden, „ebenso die Vorliebe für Kleidung aus englischem Tuch und Schnitt“, schrieb der französische Betrachter, den die Historiker Gerhard A. Ritter und Jürgen Kocka in ihrer Sammlung zur deutschen Sozialgeschichte zitieren.Spürbare Verbesserung des Lebens
In den knapp fünf Jahrzehnten des Kaiserreichs, proklamiert vor 150 Jahren am 18. Januar 1871, hat sich Deutschland fundamental gewandelt: vom rückständigen Agrarstaat in eine führende Industrienation. Mit Spitzenleistungen in Wissenschaft und Forschung, mit modernen, erfolgreichen Großunternehmen in neuen Industrien wie Chemie, Elektrotechnik, Maschinenbau und Automobilbau, mit einem nationalen Parlament und einem zunehmend selbstbewussten Bürgertum, durchaus mit großen sozialen Spannungen, aber auch Fortschritten zur Demokratisierung, zu mehr politischer Teilnahme und zu einer modernen Gesellschaft, die auch das Leben der wachsenden Arbeiterschaft spürbar verbesserte.
Dennoch dominieren vielfach holzschnittartige, dunkle Klischees über das Kaiserreich und seinen Obrigkeitsstaat. Bundespräsident Steinmeier hat letzthin zum Tag der Deutschen Einheit eine Rede gehalten, die diesbezüglich nur Negatives enthielt, ganz fixiert auf Militarismus und Demokratiedefizite. Die Rede gefiel der selbst sozialdemokratisch orientierten Historikerin und Demokratieforscherin Hedwig Richter nicht. „Meine Kollegen hatten recht, als sie mir entsetzt vom verkürzten Blick des (sonst sehr geschätzten) Bundespräsidenten auf das Kaiserreich erzählt haben – in seiner Rede zum 3.10. Das ist nichts als Pickelhaubengeschichte und ignoriert alle Aufbrüche der Zeit“, twitterte Richter. Die Forschung zeichne längst ein differenziertes und positiveres Bild.
Unbestreitbar ist der dynamische, lange ökonomische Aufschwung. Vom „ersten deutschen Wirtschaftswunder“ sprach der Historiker Hans-Ulrich Wehler. Etwas über 2 Prozent betrug die Wachstumsrate im Durchschnitt der 1870er Jahre, rund 3 Prozent in den 1890ern, nach der Jahrhundertwende beschleunigte sie sich auf 3,7 Prozent, hat der Bonner Wirtschaftshistoriker Carsten Burhop errechnet. Das könne man als Trippelschritte sehen. „Meine Studenten denken an die Wachstumsraten in China und finden das dann eher langsam.“ Aber man muss die Dynamik im historischen Kontext sehen.
Deutschlands Wirtschaft wuchs schneller als die Großbritanniens, des Mutterlands der Industriellen Revolution, das im 19. Jahrhundert als „Werkstatt der Welt“ galt. „Mehr und mehr Arbeitskräfte wanderten aus der relativ ineffizienten, 1871 noch dominierenden Landwirtschaft in Industrien und Gewerbe“, erklärt Burhop, „das war der Schlüssel für das hohe Produktivitätswachstum.“ Der einstige Nachzügler Deutschland holte so Schritt für Schritt auf, übertraf bald das große Nachbarland Frankreich. Eine hohe Investitionsquote beschleunigte den Industrieaufbau, die Einkommen zogen nach, auch wenn sie noch einiges unter dem britischen Wohlstandsniveau blieben.
Nicht nur die deutsche Schwerindustrie in den Kohlerevieren des Ruhrgebiets, in Oberschlesien und an der Saar, die Eisenbahnen, für die das Material die gewaltigen Werke von Alfred Krupp und andere lieferten, sondern besonders die innovativen neuen Industrien ab den 1880ern, Elektrotechnik und Chemie, Feinmechanik, Maschinenbau- und Automobilunternehmen, trieben die Entwicklung an. „Deutschland brillierte besonders in diesen damaligen Hightech-Branchen“, erklärt der Mannheimer Wirtschaftshistoriker Jochen Streb. „Im Grunde lebt Deutschlands Industrie noch immer von den Wurzeln, die damals entstanden sind.“