Deutschland erlebt derzeit irritierende Karl-Marx-Festspiele: Am Samstag, zum 200.Geburtstag, wurde in der Geburtsstadt Trier die tonnenschwere Statue aus China enthüllt, für die fast der ganze Stadtrat von Linkspartei bis CDU gestimmt hat (nur AfD und einige rechte Liberale waren dagegen). Der Bundespräsident ließ Anfang Mai im Schloss Bellevue über “Geschichte und Aktualität” des Marxismus diskutieren. Buchläden sind voll von Marx-Biographien. Intellektuelle schwärmen, die Linkspartei freut sich über die neue Marx-Konjunktur. Auch bürgerliche Ökonomen loben seine Analysen zur Kraft des Kapitalismus.
Was bei alldem zu kurz kommt, ist die Erinnerung an die Millionen Opfer der kommunistischen Regime im 20. Jahrhundert, die sich auf Marx beriefen – von der Sowjetunion über China bis zu vielen anderen Ländern Osteuropas, Asiens, Afrikas und Lateinamerikas. Zeitweise lebte ein Viertel der Menschheit unter Regierungen, die sich als marxistisch bezeichneten. Sicherlich war Marx damit ein historisch Großer – im Sinne Jacob Burckhardts, dass die Geschichte ohne ihn wohl anders verlaufen wäre.
Marx selbst hatte es tunlichst vermieden, konkret zu beschreiben, wie die kommunistische Wirtschaft funktionieren könne. Es blieb bei romantischen Andeutungen in seinen Frühschriften (“morgens jagen, nachmittags fischen, abends philosophieren”). Tatsächlich entpuppte sich der reale Sozialismus nicht als “Reich der Freiheit”, sondern überall, wo er ausprobiert wurde, als Unterdrückungsregime, das den Arbeitern wenig Freiheit und viel Elend brachte. In der Realität war der Sozialismus eine zentrale Planwirtschaft, die nicht funktionierte.
Ob in der Sowjetunion, in China, in der DDR: Es gab keine Berufsfreiheit, keine Reisefreiheit, keine Meinungsfreiheit. Dissidenten wurden unter Stalin und Mao in Lager gesteckt, gefoltert, Millionen Menschen krepierten. Als die 68er-Studenten hierzulande Marx feierten und die “Mao-Bibel” unterm Arm trugen, war China ein bitterlich armes Land. Während der Kulturrevolution verreckten Hunderttausende in Umerziehungslagern. Erst nachdem Maos Nachfolger sich vom orthodoxen Kommunismus gelöst haben und Privateigentum sowie Gewinne für Investoren und Wettbewerb zuließen, hat China einen großen wirtschaftlichen Aufschwung genommen. Hunderte Millionen wurden so aus der Armut befreit. Ob Marx diese dialektische Wendung gefallen hätte?
Marx war ein widersprüchlicher Mann. Er war Empiriker und Ideologe, Bewunderer und zugleich Untergangsprophet des Kapitalismus, getaufter Jude und Antisemit, Bohemien und Revolutionär, Vorkämpfer der “Proletarier” und Verächter der realen Arbeiter und des “Lumpenproletariats”. Linke Konkurrenten beleidigte er hemmungslos (Lassalle als “jüdischen Nigger”). Ganzen “reaktionären” Völkern in Osteuropa sprach er das Existenzrecht ab (“Völkerabfall”), außereuropäische Kulturen hielt er für primitiv und unwert. Marx taugt nicht als Säulenheiliger der Linken.
In zentralen Vorhersagen hat er sich geirrt. Statt in Massenelend zu versinken, erfreuen sich die Arbeiter im Kapitalismus heute eines in der Geschichte ungekannten Massenwohlstands; sie fahren Autos, machen Urlaub in fernen Ländern. Die Lebenserwartung ist um mehrere Jahrzehnte gestiegen, Bildung, Teilhabe, Freiheitsrechte – alles ist viel besser. Das Arbeiterelend der Mitte des 19.Jahrhunderts, das Friedrich Engels so drastisch beschrieb, wurde überwunden, weil die Wirtschaft in sagenhaftem Maß gewachsen ist – durch technische Innovationen und unternehmerische Leistungen – und weil organisierte Arbeiter vom gewachsenen Kuchen ihren Anteil erstritten. Marx hielt aber nichts von schrittweisen Verbesserungen, er wollte die Revolution, die “Diktatur des Proletariats”. Marx war ein Gewaltverherrlicher. Im Kern war sein Denken totalitär. Die Kapitalisten-Unternehmer entmenschlichte er, stellte sie als blutsaugende Vampire dar. Von dort bis zur Vernichtung im GULag war es kein weiter Weg.
Auf der anderen Seite finden sich bei Marx tatsächlich hellsichtige Analysen des Kapitalismus. Marx war ein Prophet der Globalisierung. Er erahnte, dass der Kapitalismus zu einer global transformierenden Kraft werde, er war begeistert von der Dynamik des Industriekapitalismus, der in England aufkam, dann auf Europa und Nordamerika, schließlich auf ferne Gebiete übergriff. Die “wohlfeilen Preise” der industriell gefertigten Waren der Bourgeoise seien die Artillerie, mit der sie chinesische Mauern niederschieße und “Barbaren” zur Kapitulation zwinge, schrieben Marx und Engels im Kommunistischen Manifest. Marx erkannte hellsichtig, wie moderne Massenproduktion in Verbindung mit neuen Transport- und Kommunikationsmitteln die Welt radikal verändert. Nur meinte er, dass der Kapitalismus sich zwingend selbst zerstöre.
Tatsächlich gibt es ernste wirtschaftliche und ökologische Probleme im Kapitalismus. Märkte brauchen einen staatlichen Rahmen, damit ein fairer Wettbewerb funktioniert; negative externe Effekte, zum Beispiel auf die Umwelt, müssen bepreist und so reduziert werden. Doch alle Versuche, Privateigentum und Märkte abzuschaffen, haben ins Elend geführt. Zur Lösung der aktuellen Probleme kann ein orthodoxer Marxismus nichts beitragen. Es besteht kein Anlass zu der Verklärung, die Marx derzeit vielerorts erfährt.