Am 4. September 2015 hat Angela Merkel beschlossen, die Grenzen Deutschlands für die in Ungarn festsitzenden Flüchtlinge zu öffnen. Sehr wahrscheinlich hat sie – das kann man in der Rückschau sagen – an diesem Tag ihre Kanzlerschaft aufs Spiel gesetzt. Es ging zunächst um einige zehntausend Asylbewerber. Doch die Entscheidung hat eine ungeahnte Dynamik ausgelöst, so dass der Ansturm nach Deutschland exponentiell anstieg. Bis Ende 2015 sind schon rund 1,1 Millionen Asylbewerber angekommen – mehr als zwei Drittel aller in der EU registrierten Asyl-Migranten.
Trotz des Winters ist der Zuzug nach Deutschland weiterhin stark – im Januar waren es durchschnittlich 3000 am Tag. Die Stimmung in der Bevölkerung hat sich drastisch abgekühlt. Spätestens nach den Gewaltexzessen der Silvesternacht in Köln, wo auch zahlreiche nordafrikanische und arabische Asylbewerber mehrere hundert Frauen attackierten und sexuell missbrauchten oder bestahlen, ist die Stimmung gekippt.
Laut ARD-Deutschlandtrend sagen 81 Prozent der Deutschen, dass die Regierung die Flüchtlingskrise nicht im Griff habe. Eine große Mehrheit der Bevölkerung findet, dass zu viele Flüchtlinge ins Land kommen. Und auch das europäische Ausland ist irritiert über Deutschland, das sich im Willkommensrausch wie ein „gefühlsgeleiteter Hippie-Staat“ (Anthony Glees) aufführe: „No Borders, no Nations“, so lautet ein linksradikaler Schlachtruf. Die meisten anderen Europäer sind hingegen der Ansicht, dass Grenzen nicht irrelevant geworden sind. Sie machen aus ihrem Unverständnis des deutschen Kurses keinen Hehl – die Bundeskanzlerin ist somit weitgehend isoliert.
Hat Merkel wirklich ihre Flüchtlingspolitik „vom Ende her bedacht“? In ihrer Partei brodelt es. Die Nervosität steigt, seit die Umfragewerte der CDU deutlich sinken und gleichzeitig die AfD einen Höhenflug erlebt. Immer feindseliger agiert die CSU. Seehofer stellt Merkels Autorität unverhohlen in Frage. Auch in der CDU schwindet der Rückhalt. Nur mit Druck und Drohungen konnte die Fraktionsführung einen offenen Aufruhr ersticken. Bundestagsabgeordnete berichten, dass mittlerweile eine Mehrheit der Unionsfraktion den Merkelschen Kurs ablehnen. Selbst treueste Anhänger beginnen zu zweifeln, ob die Kanzlerin wirklich einen überzeugenden Plan hat.
Bislang hofft Merkel auf eine „europäische Lösung“. Das klingt theoretisch sehr vernünftig. Aber die anderen EU-Staaten ziehen nicht wirklich mit. Da Merkel den größten Teil des Flüchtlingsstroms nach Deutschland gelenkt hat, erscheint die Asylkrise den anderen Regierungen mittlerweile als primär deutsches Problem. Merkels Plan, zunächst 160.000 Asylanten „gerecht zu verteilen“, ist krachend gescheitert, nur wenige hundert wurden bislang tatsächlich umverteilt. Die Osteuropäer lehnen die Aufnahme strikt ab. Sie sagen offen, dass sie nicht Zigtausende Muslime in ihren Ländern haben möchten. Selbst die Skandinavier sind auf Abwehrpolitik umgeschwenkt. Schweden und Dänemark haben ihre Grenzen geschlossen, Schweden will 80.000 abgelehnte Asylbewerber abschieben. Und Österreich hat im Januar einseitig eine Obergrenze ausgerufen.
Drei Punkte umfasst Merkels Plan: die europaweite Umverteilung der ankommenden Asylbewerber, eine bessere Sicherung der EU-Außengrenzen und die Bekämpfung der Fluchtursachen. Alle drei Ansätze stecken fest. Zur Sicherung der EU-Außengrenze wird die Türkei umworben. Erdogan soll die Drecksarbeit machen, dafür soll er mit 3 Milliarden Euro, Visa-Freiheit sowie einem Neustart des EU-Beitrittsprozesses belohnt werden. Europa macht sich von der Türkei erpressbar. Doch die Boote starten weiterhin ungehindert von den türkischen Küstenorten in Richtung der griechischen Inseln. Und der letzte Punkt, der an sich lobenswerte Ansatz, die Fluchtursachen zu bekämpfen? Das ist keine kurzfristige Lösung, sondern wird sich über Jahre und Jahrzehnte hinziehen – mit ungewissem Erfolg.
Die Uhr für Merkel tickt. Wenn es so weitergeht, wird 2016 eine weitere Million Asylbewerber nach Deutschland streben. Laut Angaben des EU-Vizekommissionschefs Frans Timmermans haben etwa 60 Prozent der ankommenden „Flüchtlinge“ kein Asylrecht in der EU, weil sie aus Ländern kommen, in denen weder politische Verfolgung noch akute Bedrohung durch (Bürger-)Krieg gibt. Das ergaben Analysen der Situation von Frontex im Dezember.
Zwar setzt Merkel mittlerweile verstärkt neben dem „freundlichen Gesicht“ der Aufnahmebereitschaft auch auf restriktive Maßnahmen durch partielle Verschärfungen des Asylrechts. Das hat bislang ihren in ganz Arabien und Nordafrika bestehenden Ruf der freundlichen „Mama Merkel“ nicht angekratzt; die Macht der Selfie-Bilder mit Asylbewerbern hat sie unterschätzt. Der einmal in Bewegung gesetzte Strom nach Deutschland ließe sich nur durch ein drastisches Signal stoppen. Dazu ist Merkel nicht bereit. Gerätselt wird, was ihre Motivation bei der Grenzöffnung war. Der Versuch, die Koalitionsperspektive mit den Grünen zu vertiefen? Oder tatsächlich der humanitäre Impuls, sämtliche Einlass begehrenden Asylbewerber aufnehmen zu wollen?
Längst warnen renommierte Forscher aus dem Ausland die deutsche Politik vor Blauäugigkeit. „Deutschland überfordert sich, wenn es versucht, die Welt zu retten“, sagt etwa der Migrationsforscher George Borjas von der Harvard-Universität, der selbst einst Flüchtling aus Kuba war. „Deutschland wird einen hohen Preis für die Politik der offenen Tür zahlen“, warnt Borjas. Und der Entwicklungsökonom und Afrikaforscher Paul Collier von der Universität Oxford wirft Merkel fatale Signale vor. Indem sie die Tür geöffnet hat, habe sie den Asylbewerberzustrom verstärkt „Sie hat Deutschland und Europa damit definitiv ein gewaltiges Problem aufgebürdet“, sagt Collier.
Zuvor hatten schon einige der renommiertesten deutschen Juristen die Verfassungs- und Rechtsmäßigkeit von Merkels Flüchtlingspolitik angezweifelt. Der Ex-Präsident des zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier geißelte ein „eklatantes Politikversagen“. Die Bundesregierung habe die Leitplanken des deutschen und europäischen Asylrechts „gesprengt“, bestehende Regelungen „an die Wand gefahren“. Ähnlich vernichtend äußerten sich der frühere Verfassungsrichter Udo Di Fabio, der Berliner Verfassungsrechtler Ulrich Battis („klare Verfassungsbrüche“) sowie der frühere NRW-Verfassungsgerichtspräsident Michael Bertrams („Merkels Alleingang war ein Akt der Selbstermächtigung“).
Auch die Wirtschaft ist inzwischen eher besorgt. Im Spätsommer 2015, als die Migrationswelle erst richtig losging, klangen einige Unternehmensvertreter noch hoffnungsvoll und träumten von schnell einsetzbaren (billigen) Fachkräften. Im besten Fall könnte der Flüchtlingsstrom „die Grundlage für das nächste deutsche Wirtschaftswunder werden“, mutmaßte Dieter Zetsche, der Daimler-Vorstandsvorsitzende. Der Chefvolkswirt der Deutschen Bank, David Folkerts-Landau, sagte bei einem Abendessen mit Journalisten sogar, der Flüchtlingsstrom sei „das Beste, was Deutschland seit der Wiedervereinigung passiert sei“, die massenhafte Zuwanderung könnte dem überalterten und bald schrumpfenden Land einen großen wirtschaftlichen Schub geben.
Doch damit das wirklich gelänge, müssten die Asyl-Migranten reibungslos in den Arbeitsmarkt zu integrieren sein. Das aber scheint kaum möglich. Die bislang verfügbaren Daten sind ernüchternd. Laut Bundesagentur für Arbeit (BA) haben mehr als 80 Prozent der Ankommenden „keine formale Qualifikation“, nur etwa 10 Prozent verfügen über einen Hochschulabschluss. Die meisten Unternehmen sehen die überwiegende Mehrzahl der Flüchtlinge allenfalls als Hilfsarbeiter einsetzbar – für deren Beschäftigung aber der Mindestlohn eine Barriere darstellt. Laut BA-Vorstandsmitglied Detlef Scheele wird die Arbeitsmarktintegration sehr mühsam. „Wenn es gut läuft, werden im ersten Jahr nach der Einreise vielleicht zehn Prozent eine Arbeit haben, nach fünf Jahren ist es die Hälfte, nach 15 Jahren 70 Prozent“, sagt er.
Selbst das erscheint optimistisch. Von den bisher in Deutschland lebenden Syrern haben laut einer IAB-Studie 63,8 Prozent keine Arbeit, unter den Libanesen, Irakern und Afghanen sind 49, 43 und 32 Prozent arbeitslos gemeldet – weit mehr als doppelt so viel wie beim Durchschnitt der anderen Ausländergruppen. Kein Wunder, dass Wirtschaftsforschungsinstitute wie das IW oder das IfW allein bis 2017 schon Kosten von 50 bis 55 Milliarden Euro für die Asylbewerber errechnen – zum einem für Unterbringung, Verpflegung, medizinische Versorgung und Sozialleistungen, zum anderen für Integrationsmaßnahmen. So kann es nicht weitergehen mit einer ungesteuerten und ungebremsten Zuwanderung, zu der bald noch der Familiennachzug in mehrfacher Höhe kommen könnte. Die Kosten – vor allem die politischen werden bald unerträglich hoch.
Die Kanzlerin hat sich mit ihrer Flüchtlingspolitik in eine Sackgasse manövriert. Nur eine völlige Kurswende könnte sie daraus befreien. Merkel hat bei früherer Gelegenheit – etwa bei dem radikalen Umwerfen der Energiepolitik – ihre Wendigkeit bewiesen. Niemand sollte sie unterschätzen. Wenn Merkel jedoch den deutschen Sonderweg mit unbegrenzter Asylaufnahme weitergeht, wird es eng für sie.
(Der Beitrag wurde für die Zeitschrift „Mut – Forum für Kultur, Politik und Geschichte“ geschrieben und erscheint in der März-Ausgabe.)